Lese-Boom: Münchner stürmen Bibliotheken

München - Wie sie das alles schaffen hinter den Kulissen, unaufgeregt und leise, wie sich das gehört in einem Lesesaal, da kann man nur staunen. Denn seit bestellen und abholen ("Click & Collect") nun auch in den Stadtbibliotheken erlaubt ist, bricht sich bei den Münchnern eine Leselust Bahn, wie es sie so vielleicht noch nicht gegeben hat.
Click&Collect in Münchner Büchereien sehr beliebt
"Die Leute rennen uns die Bude ein", sagt Thomas Bartholomé, der Vize-Abteilungschef der Stadtbibliothek am Gasteig, und man kann ihm die Begeisterung ansehen. 1.200 Münchner haben seit dem ersten Click & Collect-Tag am vergangenen Mittwoch am Gasteig 2.800 Ausleihbücher vorbestellt und bisher 1.900 ausgeliehen. Das seien rund vier Mal mehr Menschen wie in Vor-Corona-Zeiten. Romane, Krimis, Fachliteratur, Filme, Kinder- und Jugendbücher, alles werde jetzt gebraucht, in großen Mengen, es sei die helle Freude.

Es ist Montagmittag, vor dem Eingang zur Bibliothek im ersten Stock der Glashalle stehen drei Menschen mit Abstand vor der Drehtür. Dirk Schäfer (65) aus Grünwald, Altenpfleger in Rente und Regionalkrimifan, wie er sagt, hat gerade zehn Leihbücher aus der Vor-Lockdown-Phase in die Rückgabe-Klappe geworfen. Ein Kluftinger, ein Jörg Maurer, ein paar Andreas-Föhr-Bände. Lauter amüsante, spannende Sachen.
Bücherei-Regale gefüllt mit vorbestellten Büchern
Wirklich mal froh sei er, dass er wieder ausleihen könne. "Ich habe 30 Meter Bücher daheim, aber ich verschlinge sechs bis acht Bücher jeden Monat, ich brauche Nachschub." Diesmal auf der Wunschliste? "Drei Titel über die Vorteile der Einsamkeit", sagt er. Das passe ja zum Lockdown, der nicht so schlimm sei, wenn man lese.

Ganz glücklich sieht auch Zemfira Yunusova (34) hinter ihm in der Schlange aus, die Soziologin ist und Russin, und die endlich wieder Romane in ihrer Muttersprache bestellen konnte. "Das habe ich vermisst", sagt sie, " russisch lesen!" Drinnen, hinter der Drehtür, sieht alles anders aus als gewohnt. Im sonst weiten, leeren Foyer haben die Mitarbeiter auf einem elf Mal acht Meter großen Raum rundum Regale aufgestellt, gefüllt mit Hunderten vorbestellter Bücher. Damit jeder Ausleiher seine Bestellung sofort findet, hängen an den Regalen Schildchen mit den Nummern "0000" bis "9999". Das steht für die Endziffern der Bibliotheksausweise, erklärt Thomas Bartholomé.
Reingehen, Regal mit Nummer suchen, scannen, rausgehen
Es funktioniere also einfach und kontaktfrei: Reingehen mit dem Ausweis, Regalnummer suchen, Bücher rausnehmen, auf dem markierten Weg Richtung Ausgang gehen, dort die Titel am Automaten als "Ausleihe" einscannen - rausgehen. Maximal zwei Leute dürfen gleichzeitig ins Abhol-Foyer. Trotzdem werde die Schlange draußen bislang nie lang, obwohl keine Abholtermine vorgegeben sind. "Das verteilt sich über den Tag", sagt Bartholomé, "wenn sie sich irgendwann auf die Füße treten, führen wir Termine ein." An die 400 Menschen schleust das Team so täglich durch die Abholzone, ganz ruhig, einen nach dem anderen.
"Die Kinder, die Erwachsenen, sie wollen jetzt lesen"
Im Hintergrund aber arbeitet das Bibliotheksteam eher atemlos. Fortwährend klingeln leise zwei bis drei Telefone, weil nicht nur online, sondern auch telefonisch bestellt wird. "Die Leute haben viele Fragen", sagt Teamleiter Marco Zielske (38). "Manche wissen ihr Passwort nicht mehr, sie fragen nach speziellen Büchern, und natürlich, wann wir wieder aufmachen." Zeitgleich schieben Mitarbeiter Berge von Bestellbüchern Richtung Abholregal. Wie man die alle so schnell findet, bei 300.000 neueren Titeln, die in den zugänglichen Regalen stehen - von den 800.000 älteren im Magazin im Keller ganz zu schweigen? "Mit Konzentration", sagt eine Mitarbeiterin, lächelt ein wenig abgekämpft - und sortiert weiter ein.

Dabei haben sie von 120 Mitarbeitern (darunter 20 Bibliothekare und 25 im Service) nur einen Teil da. Viele sind von der Stadt auf andere Posten verteilt worden, an denen es brennt, bei der Corona-Kontaktnachverfolgung im Gesundheitsreferat oder beim Einkaufen für Senioren im Sozialreferat. Trotzdem, sagt Bartholomé, "wir stemmen diesen Aufwand jetzt wirklich gern. Die Kinder, die Erwachsenen, sie wollen jetzt lesen". Nicht jeder könne sich doch dauernd Bücher kaufen, das gehe ins Geld, gerade für Familien. Und am Ende sei es doch einfach schön, gebraucht zu werden.