Lerne deine Heimat kennen
Johann Wolfgang von Goethe auf Türkisch im Fackelschein, Westöstlicher Divan in einem von 40 Gebetshäusern: Die Kammerspiele führen durch ein Stadtviertel: »Inside Landwehrstraße«
Ihren Namen hat sie tatsächlich von einer Landwehr, die 1830 hier stationiert war, um die Werte des Münchner Bürgertums gegen aufmüpfige Studenten zu verteidigen. „Hat nicht viel genutzt”, feixt Altinbas Teoman heute, denn gerade in der Landwehrstraße ist die traditionelle deutsche Bürgerlichkeit so durchlässig geworden wie kaum anderswo. Altinbas Teoman ist Fremdenführer der Landeshauptstadt und türkischer Herkunft.
Von den Kammerspielen hat er den Auftrag, Einheimische mit einem Ausbruch aus dem Theater mitzunehmen. Das Projekt „Inside Landwehrstraße” ist eine Konfrontation mit Realitäten in dieser Stadt, deren Existenz wohl die meisten ahnen, die aber nicht zur Identität des klassischen Münchners gehören.
Regisseur Karnik Gregorian, dessen Eltern aus Armenien ins Schwäbische einwanderten, verleiht dem Fremden Gesichter und Lebenswege. Gerard Wiener, zum Beispiel, hat er ausgesucht, um ihn mit dem wie in einer Touristengruppe mitlaufendem Publikum zu besuchen.
Wiener stammt aus Frankreich, und als er in den 60er Jahren am Algerien-Krieg hätte teilnehmen sollen, beschloss er, sich dafür „nicht zu interessieren”. Er ging nach Argentinien, machte Filme, landete in Deutschland. Nun repariert er in München Fotoapparate. „Man träumt aber immer irgendwas”, und es dürften, räumt der freundliche ältere Herr ein, durchaus noch Hawaii oder Haiti sein.
Goethe, Atatürk und Ludwig II.
Seit 36 Jahren ist Mahir Zeytinoglu in München und Geschäftsmann, der es geschafft hat. Drei Porträts an der Rezeption seines Hotels Johann Wolfgang von Goethe markieren seine mentale Heimat: Johann Wolfgang von Goethe, Kemal Atatürk und Ludwig II. Zeytinoglu Lieblingsbeschäftigung ist, Goethe-Gedichte ins Türkische zu übersetzen. Den Besuchern trägt er Beispiele bei Fackelschein und Tee vor.
Hilfe für Suchtabhängige
Gleich gegenüber dem Selfmade- Effendi trifft die Stadtführung auf Menschen, denen das Leben entglitten ist: Der Verein Prop ist rund um die Uhr da, um Suchtabhängigen Beratung, Pflege und ein Bett für die Nacht zu sichern. Dort begegnet man etwa einem Bewohner aus der Provinz, der als junger Mann auf die schiefe Bahn geriet, aber erst im Gefängnis zum Junkie wurde. So etwas dürfte man im Justizministerium nicht gerne hören, aber was hier karg skizziert wird, ist eine bewegende Realität jenseits der Gesetzgebung.
Begegnung mit dem Islam
Religion sei „Opium fürs Volk”, beschwerte sich Karl Marx einst, und wenn man diesen Gedanken verfolgt, ist die Landwehrstraße ein Hort der Dealer: Nicht nur, dass die Paulskirche mit ihrem neogotischen Prunk eines der mächtigsten Gotteshäuser der Stadt ist und die Landwehrstraße abschließt. Start und Schluss des Rundgangs ist der Partykeller des CVJM, der das Publikum mit frommen Gesängen in den Abend entlässt.
Ein nicht alltägliches Erlebnis ist die Begegnung mit dem Islam, der in genau dieser Gegend zum Alltag gehört: Mehr als 40 sogenannte Hinterhof-Moscheen soll es in der Landwehrstraße geben. Eine davon ermöglicht dem Kammerspiele-Publikum den Besuch mit Gebet, Erläuterung und Diskussion. Was halte man davon, dass das Gebetshaus vom Verfassungsschutz beobachtet werde, fragte einer der Gäste. Die Geistlichen nehmen es entspannt: „Wir sind jetzt TÜVgeprüft.”
Mathias Hejny
Termine
„Inside Landwehrstraße“: CVJM-Haus (Landwehrstraße 13): 9. Februar, 12 Uhr, am 13. 2. und 5. 3.um 18 Uhr, Karten am CVJM-Haus
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