Lebe den Augenblick! In memoriam Christoph Schlingensief

Am Samstag starb der Performance-Künstler, Regisseur und Autor Christoph Schlingensief. Seit Ende der 80er nahm seine Kunst teil an der deutschen Gesellschaft – gerne auch schockierend
von  Abendzeitung

Am Samstag starb der Performance-Künstler, Regisseur und Autor Christoph Schlingensief. Seit Ende der 80er nahm seine Kunst teil an der deutschen Gesellschaft – gerne auch schockierend

Vor knapp zwei Monaten war er noch recht lebendig. Am 24. Juni eröffnete sein Abend „Via Intolleranza II“ den Staatsopern-Pavillon am Marstallplatz. Zwar hieß es erst, Schlingensief läge krank im Hotel. Aber gegen Ende spottete er doch in wildem Stakkato über Gutmenschen, die Afrika bevormunden wollen und warb für sein Operndorf, das jungen Leuten in Burkina Faso die Selbstverwirklichung durch Musik und Kino ermöglichen soll.

Schlingensief redete schnell und kam gern vom Hundertsten ins Tausendste. Seit 2008 sein Lungenkrebs diagnostiziert wurde, lief dem Nichtraucher die Zeit davon. Der echte Schlingensief verschwamm in solchen Aufführungen mit der von ihm selbst geschaffenen Kunstfigur. Beide waren maßlos, zogen sich aber durch ihre Übertreibung bei allem Ernst auch durch den Kakao. Das machte ihn unwiderstehlich.

Sein Engagement für Afrika war diesem Moralisten so ernst wie sein Interesse an Wagner oder der öffentliche Kampf gegen die Krankheit, der er am Samstag 49-jährig in Berlin erlegen ist. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Schlingensief, als er 1997 eine Talksshow übernahm und im Jahr darauf mit sechs Millionen Arbeitslosen im Wolfgangsee baden wollte, um das Urlaubsdomizil von Helmut Kohl zu fluten.

Lokale Politiker reagierten wie erwartet: Sie drohten der veranstaltenden „Szene Salzburg“ mit einer Etatkürzung, setzten Polizei in Marsch und verhalfen Schlingensief zur gewünschten Öffentlichkeit, obwohl letztendlich nur 100 Arbeitslose ins Wasser stiegen.

Er beerbte die Aktionskunst

Mit solchen Aktionen belebte er alte Happening-Ideen der 1960er Jahre wieder. Obwohl heutzutage angeblich keine Provokationen mehr möglich sind, fand der Künstler immer wieder einen neuen Dreh.

Schlingensief, 1960 als Sohn eines Apothekers in Oberhausen geboren, experimentierte bereits als 12-Jähriger mit Schmalfilmen. Ab 1981 studierte er in München. „Ich wohnte in der Bergmannstraße im Westend, oberhalb der Herz-Jesu-Apotheke“, erzählte er 2007 der AZ. „Es war ein total heruntergekommenes Haus mit Gemeinschaftstoiletten auf jedem Stock. Mein Nachbar Zellermayer trat jede Nacht, wenn er besoffen nach Hause kam, die Tür ein und reparierte sie mit dem Taschenmesser. Ich habe hier auch ein bisschen studiert, war aber die meiste Zeit im Theatiner und den Kinos am Stachus, wo ich täglich zwei Filme gesehen habe.“

Später wandelte er auf den Spuren von Joseph Beuys’ „sozialer Plastik“. Auf der documenta X wurde er 1993 bei einer den Meister bereits im Titel zitierenden Aktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase“ festgenommen, weil er ein Schild mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ verwendete.

Wagner und Krebs

Daneben drehte Schlingensief Filme wie „Das deutsche Kettensägenmassaker“, verlagerte seine Aktionen ab Mitte der 1990er aber zunehmend ins Theater. Bei „Rocky Dutschke, 68“ an der Berliner Volksbühne traten neben gelernten Schauspielern und Laien auch Menschen mit geistiger Behinderung auf, die fortan ein Leitmotiv seiner Arbeiten bildeten.

2004 inszenierte er zum Entsetzen vieler Wagnerianer „Parsifal“ in Bayreuth. Wer die von Gerümpel überbordende Bühne gesehen hat, wird sie nie vergessen. Dem Vorurteil zum Trotz verfolgte die Aufführung stimmig mehrere rote Fäden wie Wagners Kunstreligion, die der Regisseur im ähnlich zusammengebastelten Voodoo-Kult spiegelte. Im toten Hasen, dem durch Maden neues Leben entwächst, fand er ein stimmiges, wenngleich provokantes Bild für Wagners Erlösungsidee.

Den Krebs und die Bayreuther Erfahrung vermischte der Abend „Mea Culpa“, der im September 2009 im Münchner Nationaltheater gastierte. In einem trotzigen Auftritt protestierte Schlingensief dort gegen die Ausgrenzung von Krebs und Krankheit. Dann schaute er im dritten Akt noch wie der Brandner Kaspar ins Jenseits. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Er entließ den Zuschauer im Geist Nietzsches und zugleich gut katholisch mit dem Appell: Lebe den Augenblick verantwortlich, er könnte dein letzter sein!

Robert Braunmüller

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