Lasst Mamas Rockzipfel los!

Berlusconis Regierung lässt die italienische Kultur bluten. Der Dirigent Antonio Pappano, morgen mit der Accademia Nazionale di Santa Cecilia im Gasteig zu Gast, versteht die Krise als Chance.
von  Abendzeitung

Berlusconis Regierung lässt die italienische Kultur bluten. Der Dirigent Antonio Pappano, morgen mit der Accademia Nazionale di Santa Cecilia im Gasteig zu Gast, versteht die Krise als Chance.

Mit Anna Netrebko haben sie aktuell Rossinis „Stabat Mater“ auf CD eingespielt (EMI). Nun gastiert das Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia aus Rom am 28. Oktober in München. Im Gasteig gestaltet das beste Symphonieorchester Italiens mit Lang Lang Chopins Klavierkonzert Nr. 1, am Pult steht Chefdirigent Antonio Pappano. Beim Auftakt der Cecilia-Saison in Rom wurde ungeheuer frisch, lebendig und farbenreich musiziert. Pappano äußerte sich zur Klassik-Misere in Italien.

AZ: Herr Pappano, in Italien fürchten Orchester und Opern um ihre Existenz. Wie erleben Sie die Situation?

ANTONIO PAPPANO: Das ist nicht nur ein italienisches Problem. Gerade kündigte die britische Regierung an, dass der Kulturhaushalt um 30 Prozent gekürzt werde. Das ist ernst.

Und in Italien?

Hier ist es eine Mischung aus dem Machtmissbrauch der Gewerkschaften, dem Fehlen von Produktivität und von Gesetzen, die das überhaupt ermöglichen, sowie – nicht überall – eine Inkompetenz der Verwaltung. In Italien trifft die Politik die Entscheidungen. Wenn sie aber ständig wechselt und nur für die Nachfolger plant, geht das nicht gut. Das Musikleben muss restrukturiert werden. Die Situation ist schwierig, und es wird noch sehr hart. Es ist fürchterlich, dass Theater schließen. Aber es gibt auch Chancen.

Welche?

Es ist ein bisschen wie bei der Pleite von Lehman Brothers 2008. Die USA haben die Bank fallen gelassen, alle haben sich davor gefürchtet. Ich sage nicht, dass heute alles perfekt ist. Aber man hat begriffen, dass es in der Finanzwelt so nicht weitergehen kann. Weil wir viele Jahre eine Lüge lebten. So ähnlich ist es heute in Italiens Klassikleben. Was uns aber irritiert, ist, dass die Santa Cecilia in das gleiche Boot gesetzt wird.

Wer tut das? Kulturminister Sandro Bondi möchte nur noch die Santa Cecilia und die Scala in Mailand unterstützen.

Das hat er gesagt, aber im Moment ist das nicht klar. Wir sind immens produktiv, haben ein fantastisches Education-Programm für junge Leute, das Publikum kommt. Wir machen CDs, gehen erfolgreich auf Tour wie jetzt. Seit fast 15 Jahren war das Orchester nicht mehr in München. Wir sind gefragt.

Trotzdem hat die britische Zeitschrift „Gramophone“ im Orchesterranking von 2008 kein italienisches Ensemble aufgelistet, auch nicht Ihres.

Dafür waren wir in „Classic FM“ vertreten. Mir ist das nicht so wichtig. „Gramophone“ hat unsere „Butterfly“ mit Jonas Kaufmann und Angela Gheorghiu prämiert (EMI). Das ist mir wichtiger. In den fünf Jahren seit meinem Amtsantritt reist das Orchester verstärkt, vorher nur sporadisch. Es wurde geschätzt, aber jemand musste es aufwecken. Wir wollen nicht bestraft werden, weil wir gut sind. Auch bei uns wurde im jährlichen Budget gekürzt.

In welcher Höhe?

Um 10 Prozent, also rund 4 Millionen Euro. Ich führe aber kein politisches Interview. Das ist nicht mein Stil. Reden Sie mit mir über Musik.

Die gute Bedingungen braucht. Riccardo Muti und Zubin Mehta sprechen offen von Kulturverfall. Die Mezzospranistin Cecilia Bartoli beklagt, dass gerade junge Musiker und Sänger das Land verlassen müssten.

Ich sehe das etwas anders. Sicher, die Abwanderung ist gefährlich für Italien. Wo das enden wird, weiß auch ich nicht. Aber die Italiener sind bekannt dafür, zu Hause zu bleiben. 75 Prozent der Männer unter 35 Jahren leben bei Mama. Wenn mich junge Menschen fragen, was sie machen sollen, antworte ich: „Geht weg, um Erfahrungen zu sammeln und eine andere Sprache zu lernen.“

Marco Frei

Philharmonie, 28.10., 20 Uhr. Das Konzert ist ausverkauft.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.