Kuscheln mit dem Panzer
Türkische Medien stimmen sehr versöhnlich auf das EM-Halbfinale ein. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hält diesen Ton für trügerisch. Nach der eigenen Niederlage bei der WM 2006 wurden alle Fehler "den Schiedsrichtern angelastet und irgendwelchen Verschwörungen. Fürchterlich.“
Der Kopftuchstreit, ein drohendes Verbot der türkischen Regierungspartei AKP und neue Kämpfe mit kurdischen Rebellen – alles scheint für einige Tage vergessen. Die als Wunder erlebten Siege der türkischen Nationalmannschaft, die mehrfach im buchstäblich letzten Moment die Niederlage abwenden konnten, haben die Türken verzückt und in einen Fußball- Rausch versetzt. Mit dem Eintritt in das Halbfinal-Duell gegen Deutschland sieht sich die Türkei als ein neuer Gigant im Weltfußball und hat damit aus ihrer Sicht eines der wichtigsten Ziele schon jetzt erreicht.
„Hürriyet“: Keine Probleme gegen die Panzer
Jetzt sei alles möglich, schrieb die auflagenstärkste Zeitung „Hürriyet“ am Tag vor dem Spiel. Die Türkei habe genug Herz, um trotz fehlender Spieler zu gewinnen. „Unsere Probleme werden uns gegen die (deutschen) Panzer nicht behindern“, hieß es in dem Blatt. Und über die türkische Mannschaft: „Ohne diesem Team die Seele zu nehmen, kann man nicht gewinnen.“
Entgegen sonstiger Gewohnheiten geht die eigentlich vor Emotionen überschäumende türkische Presse aber auf Kuschelkurs mit dem Gegner. Junge Frauen, die deutsch-türkische Fahnen schwenken, geben den Blickfang für versöhnliche Geschichten über das Verhältnis beider eng verbundener Nationen.
Erdogan mit einer Botschaft an die EU
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht den Erfolg der Türken auch als Botschaft an die EU. „In ihr muss es verschiedene Kulturen und Weltanschauungen geben“, sagt Erdogan. „So wie die Türkei bei der Europameisterschaft mit farbenfroher Begeisterung aufgetreten ist, kann sie in der EU positive Effekte haben.“
Deswegen hat die Türkei auch ein Interesse daran, weiter ein positives Bild in die Welt zu schicken.
In der Türkei ist der Fußball nach Auffassung von Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk „eine Maschine zur Produktion von Nationalismus, Fremdenhass und autoritärem Denken“. Der türkische Fußball diene dem Nationalismus, aber nicht der Nation, sagte er dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vor der Europameisterschaft.
Pamuk: schlechte türkische Berichterstattung
Pamuk verwies auf das Verhalten von türkischen Medien und Fußballern nach der verpassten Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2006. „Das war unethisch und nicht akzeptabel, vor allem, wie die türkischen Zeitungen später darüber schrieben. Das Scheitern wurde den Schiedsrichtern angelastet und irgendwelchen Verschwörungen. Fürchterlich.“
Grünen-Vorsitzende Claudia Roth warnte im Fernsehsender Phoenix davor, dass man die Leichtigkeit, das Feiern und die Fröhlichkeit der Siegesparty „gleich wieder auflädt, mit dem Bezug zum eigenen Volk“.
Kritik äußerte Roth an den Äußerungen des türkischen Trainers Fatih Terim unmittelbar nach dem Sieg gegen Kroatien. Wenn sie höre, dass Allah das Tor zu Ehre der Nation geschenkt habe, „dann entsteht da etwas, dann wird da etwas angefacht, was in der Türkei ein großes Problem ist: nämlich Nationalismus auch gegen Minderheiten“.