Werner Stengel: Der Wiesn-Macher

Früher hat man „fliegenden Bauten“, wie sie bürokratisch heißen, eher aus dem Bauch heraus, also „Pi mal Daumen“ zusammengebastelt. Dagegen setzte Werner Stengel, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, genaue statische Berechnungen. So läuft man heute – körperlich unversehrte Gesundheit und exakte Einhaltung der Bedienungsanleitungen vorausgesetzt – auch nicht mehr Gefahr, mit Wirbelsäulenstauchungen und schweren Nackenverletzungen aus so einer Bahn auszusteigen.
Die „Herzlinie“ als sein Liebesbeweis an unser Skelett
Bis in die 30er Jahre hinein konnte das passieren. Später auch, wenn Detailpläne nicht exakt umgesetzt wurden. Denn die alte Konstruktion der Loopings überforderte die Physis des Normalbürgers. Da der nicht besonders gut überlegte Schienenstrang einem Kreis folgte, mussten im oberen Scheitelpunkt ziemlich hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, damit die Kabine nicht herunterfällt. Das führte an den Ein- und Ausfahrten in den Looping zu einer viel zu hohen Belastung des menschlichen Skeletts durch eine fast siebenfache Erdbeschleunigung.
Stengel erfand die Loopingform nach der geometrischen Figur der Klothoide, eine auf dem Kopf stehende Tropfenform mit immer enger werdender Krümmung. So kann bei der Abwärtsbewegung eine „sanfte“ Beschleunigung von etwa 5 g erreicht werden – das höchste was dem Durchschnittsbürger ohne spezielles Astronautentraining gerade noch zuzumuten ist.
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Dann entdeckte Stengel seine „Herzlinie“, um das Wohlbefinden der Passagiere nicht zu sehr zu strapazieren. Er fand heraus, daß es wesentlich bekömmlicher war, nicht hartgeometrische Linien zu seiner Harmonielehre für die gefahrenen Strecken herzunehmen, sondern den organischen Weg, den die Verdauung des Fahrgastes nimmt: Darmschlingen als Vorbild für Fahrtstrecken.
So ist zumindest einer der ironischen Ehrentitel, die Werner Stengel früher auch schon erhielt, verfehlt: „Pate des organisierten Erbrechens“. Dank seiner unermüdlichen Suche nach den günstigsten, für den Menschen verträglichsten Konstruktionen gilt inzwischen für fast alle der weltweit gebauten Exemplare sein lustiger Satz: „Einen guten Looping kann man mit einem Glas Wasser in der Hand fahren“ – oder zum Geburtstag mit Sekt!.
Als „Godfather of Coaster Design“ bezeichnete den bescheidenen „Roller Coaster Designer“, wie er sich selbst nennt, eine amerikanische Fachzeitschrift. Ihm ist das zuviel der Ehre. Stengel hält seine Arbeit für nicht geheimnisvoll oder mit dem Mysterium der Religion verknüpft. Was soll man auch anderes von einem erwarten, der nach dem zweiten Semester Architekturstudium ins Fach Bau-Ingenieurwesen wechselte, weil ihm Architektur zu wenig mathematisch war.
Im Dunkeln sausen, Rekorde brechen statt erbrechen
Der Münchner Ingenieur Werner Stengel hat mit seinem Ingenieurbüro in Hadern Achterbahnen, Riesenräder – sogar Autoscooter und Würstlbuden – entworfen. Viele machten davon Furore. Etwa der Olympia-Looping, die Wilde Maus oder die Alpinabahn.
Bekannt wurde der belesene Jubilar, der privat ein Familienmensch ist, schnelle BMWs und Rotweine schätzt, mit Rekorden. Für die erhielt er neben der Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg auch das Bundesverdienstkreuz am Bande. Drei der größten Holzachterbahnen stammen von ihm, die längste Dunkelachterbahn oder die (zwischen 2003 und 2005) schnellste Achterbahn der Welt.
Bis heute hat der Weltmarktführer in Sachen Roller Coaster Design genau 700 Achterbahnen konstruiert, 500 Karusselle, 30 Riesenräder, Wasserbahnen und ungezählte andere Fahrgeschäfte.
Werbung müssen die Haderner dabei nicht machen, die Welt kommt zu ihnen, wenn es um die seriöse Konstruktion kniffliger verrückter Attraktionen in Vergnügungsparks geht. Das ist kein Zufall. Ohne Stengels Erfindungen und Patente – es sind über 50 – wären die heute so beliebten Vielfach-Loopings, Korkenzieherdrehungen, der fast freie Fall, die gefühlte Schwerelosigkeit nicht möglich: und das ganze mit Geschwindigkeiten von über 160 km/h in großer Luftigkeit.
Stengel hat diese schwungvolle Welt der Erlebnisparks revolutioniert. Mit den typischen Tugenden eines (deutschen) Ingenieurs, der zwischen 1959 und 62 an der damaligen Baugewerkschule Kassel, heute Universität, ausgebildet wurde.
Geschwindigkeit? Spürt man nur beim Bremsen oder Beschleunigen
Stengel fragt vor dem Entwurf der verrücktesten Coaster beispielsweise: Was ist der Reiz? Schließlich besitzt der Mensch ja kein besonderes Sensorium für Geschwindigkeit. Geschwindigkeit wird nämlich prinzipiell unterschätzt, was einem dann zum beispiel Radarblitze bestätigen. Beschleunigung und Abbremsung erfährt der menschliche Körper allerdings deutlich. Bei der Fahrt mit „Erlebnis-Geräten“ entsteht der besondere Reiz also durch die Veränderung der gefahrenen Geschwindigkeit, den Richtungswechsel und den Höhenunterschied. So schrauben sich Coaster heute um ihre eigene, an sich schon gewundene Achse, Gondeln hängen unten an den Gleisen („Inverted Coaster“), Seitwärtsbewegungen werden mit Richtungsänderungen kombiniert, bis einem schier die Luft wegbleibt. Es gelingt sogar, für mehrere Sekunden eine Art Schwerelosigkeit zu erzeugen. Die Illusion einer Weltraumfahrt – überirdisch, Herr Stengel!
Die Münchner Architekturgalerie zeigt zum 80. Geburtstag von Werner Stengel die Ausstellung „Oktoberfest - Achterbahn Konstruktionen aus dem Ingenieurbüro Stengel. Fotografien von Rainer Viertlböck“. Zu sehen sind Konstruktionsmodelle und -zeichnungen aus dem Ingenieurbüro Stengel. Daneben werden zahlreiche in den Jahren 2014 und 2015 entstandene Fotografien von Rainer Viertlböck präsentiert. Die Aufnahmen wurden mit Hochstativ, Kran und Drohne aus ungewöhnlichen Blickwinkeln gemacht. So wirken Viertlböcks Bildkompositionen von Bauten, Menschen, Licht und Bewegung wie Inszenierungen auf einer schillernden Bühne - ausgeblendet sind die Niederungen des größten Volksfestes der Welt. Bis zum 22. September in der Architekturgalerie München, Türkenstrasse 30, Mo – Fr, 9 – 19 Uhr, Sa bis 18 Uhr
Am 16.9. erscheint bei Schirmer/Mosel der Band „Oktoberfest“ mit den Fotografien von Rainer Viertlböck, 39,80 Euro