Wer die Aldi-Tüte schuf

Zum 100. Geburtstag von Günter Fruhtrunk zeigt Lenbachhaus Arbeiten der Pariser Jahre des Künstlers
von  Christa Sigg
Bänder in Schräglage und ein sagenhaftes Orange: Günter Fruhtrunk hat die "Umkehrende Reihe, Étude No 4" um 1962/1963geschaffen.
Bänder in Schräglage und ein sagenhaftes Orange: Günter Fruhtrunk hat die "Umkehrende Reihe, Étude No 4" um 1962/1963geschaffen. © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, © VG Bild-Kunst Bonn, 2022

Von Energie ist viel die Rede. Die Farben springen ja fast aus den Bildern, wie Raubkatzen in der Manege: saftiges Grasgrün und knalliges Rapsgelb, starkes Royalblau und dazwischen undurchdringliches Schwarz, das wie ein Dompteur unerbittlich für Ordnung sorgt - besonders, wenn Günter Fruhtrunk mit einem Orange zugange ist, das jede sonnengereifte Apfelsine blässlich aussehen lässt.

Der amerikanische Dokumentarfilmer Warren Forma hatte den Künstler im Sommer 1962 vor der Kamera. Hoch oben über den Dächern von Paris geht es im Atelier an der Rue Saint-Luc zügig zur Sache. Fruhtrunk fuhrwerkt in Dosen und Töpfen, mischt seine leuchtenden Tinkturen, um sie immer wieder auf Papierstreifen zu testen. Bei aller Geschwindigkeit ist hier nichts dem Zufall überlassen: Geodreieck und Reißfeder geben den Kurs vor, dann staunt man, wie exakt der damals knapp 40-Jährige mit dem Pinsel Linien nachfährt, die sich zu Bändern ausbreiten. Freihändig. Und mit nacktem Oberkörper. So wie sich der hypervirile Picasso an der Staffelei gefiel, vorzugsweise im Beisein einer geneigten Gefährtin.

Bei aller Präzision geht Fruhtrunk dynamisch ans Werk

Während der Filmaufnahmen war die Hitze enorm, wird sich Eva-Maria Fruhtrunk später erinnern. Das erklärt den eher kraftmeierischen (und gar nicht seltenen) Aufzug, mit dem ihr Mann nun den Besuchern gleich zum Auftakt im Lenbachhaus begegnet. Interessant ist das allemal, denn man stellt sich ein viel vorsichtigeres, vielleicht sogar zaghafteres Agieren vor. Gerade bei einem so überaus reflektierten Maler. Vermutlich stand das Konzept bereits, und wer weiß, wie sehr Warren diesen Filmausschnitt raffen musste. Im Beitrag über die "School of Paris", respektive die "Nouvelle École de Paris", hat er noch andere Künstler porträtiert. Dass der Deutsche ganz selbstverständlich zu den Protagonisten und Weiterentwicklern der abstrakten Malerei in Frankreich gezählt wurde, sagt freilich viel über dessen Akzeptanz.

Die Pariser Jahre von 1954 bis 1967, die in der Ausstellung im Mittelpunkt stehen, markieren überhaupt eine gute Zeit. Zumindest was die Kunst betrifft. Denn der am 1. Mai vor 100 Jahren in München geborene Fruhtrunk gehört zu denen, die in jungen Jahren die ganze Grausamkeit eines Weltkriegs erfahren haben. Mehrmals ist er verwundet worden, eine schwere Kopfverletzung sollte ihn ein Leben lang quälen - bis er es nicht mehr ausgehalten hat und 1982 Selbstmord beging.

Die ganze Stadt als Experimentierfeld

Fruhtrunk schleppte jedenfalls einiges mit im Gepäck, das Erlebte war wahrscheinlich auch eine Art Antrieb. Als Schüler hatte er 1937 die Femeschau "Entartete Kunst" mitbekommen, nach den dunklen Jahren wurde Paris für ihn der Ort der Freiheit, die Moderne hatte hier ihren festen Platz, die ganze Stadt gleicht einem riesigen Experimentierfeld, das Fruhtrunk mächtig anzustacheln vermag. Mit der menschlichen Figur haben auch andere deutsche Kollegen abgeschlossen, mit dem Gefühligen sowieso.

Fruhtrunk will am Puls der Zeit zu einer eigenen gegenstandsbefreiten Malerei finden, zu Formen und Kompositionen, die sich jeder Hierarchie entziehen und die unabhängig sind von persönlichen Befindlichkeiten. Stattdessen geht es ihm um die Darstellung "artikulierter chromatischer Textur mit höchster Lichtkraft". Fernand Légers sachliche Kunst gefiel ihm - schon 1952 darf er sich mehrere Wochen in dessen Privatatelier aufhalten. Genauso bekennt er sich zu Jean Arp, der ihn durch Empfehlungen fördert und ihm konstruktivistisch auf die Sprünge hilft.

Neben der Auseinandersetzung mit Kasimir Malewitsch ist das ein wichtiger Impuls, und man kann nun nachvollziehen, wie Fruhtrunk von den anfangs übereinandergelegten, teils fast transparenten Flächen, die über dem Bildgrund zu schweben scheinen, mehr und mehr zur Konzeption mit dem Lineal hin tendiert - über einheitlichem Hintergrund.

Die Aldi-Tüte hat sich der Künstler nie verziehen

Das ist eine aufregende Phase, diese frühen Werke ausgesprochen reizvoll, manchmal muss man neben den üblichen Referenzen auch an Willi Baumeister und Serge Poliakoff denken. Doch ausgerechnet mit Kreisen und Quadraten oder längeren Balken zirkelt sich Fruhtrunk zugleich von den übermächtigen Vorbildern der 1920er Jahre frei. Dabei wird Schwarz zum markanten Kontrahenten - für Weiß und Rot, sogar für Grün oder Grau. Und was so stabil wirkt, als könne dieses Konstrukt nichts erschüttern, wird bei näherem Hinsehen immer dynamischer.

Vor den Arbeiten der frühen 60er Jahre möchte man das Gehirn wie bei einer Achterbahnfahrt festhalten, so sehr drängen Bänder und Kreissegmente aus ihrer Position. Erst recht, wenn das Schwarz von schmalen blauen Streifen in Schwingungen versetzt wird.

Den Tacho mit Leukoplast zugeklebt

Fruhtrunk hat gerne von der "domestizierten Energie" gesprochen. In sagenhafter Präzision sind geometrische Formen in minuziös ausgetüftelten Abständen auf die Leinwand gebracht. Das Raster ist vorgegeben, man könnte auch sagen, der Käfig steht. Ebenso sind die intensiven Farben genau aufeinander abgestimmt, Fruhtrunk muss nicht in pastosem Auftrag schwelgen, um Bewegung in seine Kunst zu bringen.

Ein bisschen erinnert das an ein Autorennen. Fruhtrunk ist selbst gerne in seiner Alfa Romeo Giulia zwischen Paris und München geflitzt, in Rekordzeit, den Tacho hatte er mit Leukoplast abgeklebt, und man wundert sich, wie er das alles umgesetzt und durchgestanden hat - mit den unablässigen Schmerzen. Von 1967 an betrifft das auch die Professur an der Münchner Kunstakademie. Ehemalige Studentinnen und Studenten schwärmen bis heute von seinem Engagement, von den eindringlichen, durchaus politischen Gesprächen und vom Respekt vor anderen künstlerischen Lösungen.

Streng war er vor allem mit sich selbst. Die Einkaufstüte mit dem blauen Streifenmuster auf weißem Grund, die er für Aldi-Nord Anfang der Siebzigerjahre entworfen hat, konnte er sich nie verzeihen. Er habe gesündigt, bekannte er und warf das Salär - 400 Mark - in die Klassenkasse an der Akademie. Und doch hat Fruhtrunk etwas geschaffen, das bis heute sofort ein Bild vermittelt, und dazu ein gutes. Schade eigentlich, dass die Tüte 2019 aus den Filialen verschwunden ist.

"Günter Fruhtrunk. Die Pariser Jahre 1954-1967" bis 7. April 2024 im Lenbachhaus München, Di bis So 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Katalog (Edition Lenbachhaus, 263 Seiten, 20 Euro)

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