Wachsen und Wuchern im Bayerischen Nationalmuseum

Seeanemonen und Schlingpflanzen schlängeln verträumt vor sich hin. Daneben breiten sich Rochenflügel aus, die bald an seltsam gewundene Formationen mit sonderbaren Saugarmen stoßen. Oder an Muscheln und Seesterne. Das muss "Octopus’s Garden" sein, den Beatle Ringo so schön näselnd besingt. Es fehlt eigentlich nur noch das Wasser, dann könnte man tatsächlich eintauchen in die Tiefen eines Ozeans. Doch das funktioniert auch ganz gut im Kopfkino, vor den Arbeiten von Keiyona Constanze Stumpf gerät man in einer Tour ins Fantasieren und Assoziieren.
Wunsch und Zufall werkeln auf ein wildes Ziel hin
Das ist die besondere Qualität dieser Kunst aus Porzellan, Kunststoff oder Papier, die so unendlich viel erzählt und doch stumm und allenfalls im Ungefähren bleibt. Sie will ja auch nichts Konkretes abbilden, die Absolventin der Münchner Kunstakademie beginnt zu formen und lässt ihrem Material genauso freien Lauf, greift ein und lässt erneut los. In einer Mischung aus Wunsch und Zufall ergeben sich so Gebilde, die an Organismen und geheimnisvolle Gewächse erinnern, vergleichbar den Rocaillen des Rokoko, die mit der Zeit immer wilder wuchern durften. Auch an Ernst Haeckels "Kunstformen der Natur" kann man denken oder an bizarr verschnörkelte Grotten, die vom 16. bis 18. Jahrhundert in ihrer "Natur"-nahen Gestaltung fröhliche Urständ gefeiert haben.
Keiyona Stumpfs Plastiken mit den entsprechenden Werken aus Barock und Renaissance zu konfrontieren, liegt deshalb auf der Hand. Und die Voraussetzungen im Bayerischen Nationalmuseum sind ideal – schon weil hier Objekte aus ornamentverliebten Stilphasen präsentiert werden.
Das Vokabular ist also ein adäquates, man versteht sich sozusagen. Und glücklicherweise ist es nicht bei zwei, drei Interventionen geblieben. Im Austausch mit Katharina Hantschmann, der Keramik-Spezialistin des Hauses, konnte Stumpf ihre Arbeiten in über 16 Sälen platzieren, passend zu den jeweiligen Exponaten.
Das harmoniert zum Teil so gut, dass man die Neulinge glatt in die Sammlung eingliedern würde – wäre da nicht ein oranges Hinweisschild. Die acht Porzellan-Statuetten zum Beispiel, die über einen um 1630 entstandenen Kabinettschrank aus Paris verteilt sind, wirken wie bekrönende Fayence-Vasen. Zumal sie mit den floralen Motiven der zierenden Ebenholzreliefs korrespondieren. Und ein Trio "geflügelter" Skulpturen aus glasiertem, weiß-bläulichen Porzellan scheint den vier Terrakotta-Jahreszeiten aus der Werkstatt Hubert Gerhards Luft zuzufächeln, ja sogar auf den herbstlich feisten Bacchus mit erhobenem Weinglas oder die verhaltene Ceres mit ihren Ähren zu verweisen.

Zum Martyrium ein rötlich fleischiger Kommentar
Die Werke der 41-Jährigen können freilich auch zum kommentierenden Pendant werden. Vor dem in kühl glänzende Bronze gegossenen Martyrium des heiligen Bartholomäus von Gabriel Grupello (um 1715) tut sich ein mächtig gebauschtes Ungetüm aus Kunststoff auf. Die rote Einfärbung und die sich kräuselnden Borten zwischen weißen Fetzen verbindet man sofort mit Fleisch, Blut und Gedärm. Damit mutiert "Krone I" – so der Titel – zur physiologischen Reportage der Grausamkeit dieser Häutung.

Das ist die schaurige, sehr wohl ästhetische Seite dieses Werks, dessen Wirkung sich erst im jeweiligen Umfeld auftut. Meistens sind die blühenden Objekte ja erfreulich und spülen ihr Gegenüber wie etwa das Meißner Porzellan mit Augsburger Golddekor in die schillernden Gärten der Meeresbewohner.
"Unverblümt. Keiyona C. Stumpf im Bayerischen Nationalmuseum" bis 15. Oktober, Di bis So 10 bis 17, Do bis 20 Uhr