Vision und Tradition: 200 Jahre Nationaltheater
Amfortas taucht mindestens achtmal auf. So genau ist das auf den ersten Blick gar nicht auszumachen in diesem bombastischen Vervielfältigungslabor aktueller Staatsopern-Mitschnitte. Und womöglich wäre dieses Prozedere ja die Rettung für Georg Baselitz‘ vermurksten „Parsifal“ – weg vom Museum für Flachware, hin zum dreidimensionalen Theater. Allerdings würden sich im gleichen Zug auch die grausigen Altherren-Unterhosen vermehren, in denen Christian Gerhaher als siecher Gralskönig durch seine Burg humpelt. Von den schlabbernden Fettanzügen der Blumenmädchen ganz zu schweigen.
Doch beeindruckend ist dieses Spiegelkabinett allemal und der fulminante Schlusspunkt einer bilderreichen Ausstellung zum 200-jährigen Bestehen des Nationaltheaters in München. Denn es geht weder um Baugeschichtliches, noch um Spielpläne oder die lange Reihe der Sängerberühmtheiten, zu denen auch der Bariton Gerhaher zählt, sondern um das, was die Zuschauer vor Augen haben: die Bühne.
Aus dem Vollen geschöpft
Da kann das Theatermuseum aus dem Vollen schöpfen, bis auf wenige Leihgaben – etwa von Erich Wonder oder eben Georg Baselitz – sind in der Schau eigene Bestände zu sehen. Mit 250.000 Blättern besitzt das Haus am Hofgarten eine umwerfende Kollektion an Bühnen- und Kostümentwürfen, und manches wäre in puncto Qualität sowieso ein Fall für die Graphische Sammlung. Museumschefin Claudia Blank und Hauptkurator Jürgen Schläder, Theaterwissenschaftsprofessor und intimer Kenner des „Jubilars“, haben sich allerdings verkniffen, ein Best-of auszubreiten, und sich stattdessen lieber auf Dauerbrenner wie die „Meistersinger“, „Aida“ oder den „Fidelio“ beschränkt.
Wobei nichts ohne „Zauberflöte“ geht, gerade in München, und mit der Aufführung von Mozarts populärster Oper gelang zur Eröffnung des Königlich-bayerischen Hof- und Nationaltheaters 1818 gleich ein großer Wurf. Der verantwortliche Simon Quaglio orientierte sich an den Ägyptenbildern der seinerzeit aktuellen Reiseliteratur – das hat bis ins 20. Jahrhundert hinein die Vorstellung von Sarastros Reich zwischen Pyramiden und Palmen geprägt. Und selbst das böse Regietheater ist schon in Ansätzen zu finden: Der Hoftheatermaler hat deutlich interpretierend in die Dramatik eingegriffen und auf die Bühne gebracht, was so nicht explizit in Emanuel Schikaneders Szenenanweisungen notiert ist.
Quaglios Königin der Nacht verkörpert das geheimnisvoll Irreale, Fantastische, das in all seiner nicht zu fassenden Bedrohlichkeit auf eine rationale, der Wirklichkeit exakt nachempfundene Gegenwelt knallt und den Stoff gewissermaßen in die Gegenwart des damaligen Publikums holt. Bis zur Putzfrau Aida, mit der Hans Neuenfels 1980 die Frankfurter verschreckt hat, mag es noch weit sein, dennoch darf man ein paar Vorurteile abstreifen.
Rampentheater mit schönen Bildern
Besonders der Personenregie mit ihren an der Rampe zementierten Sängern war die Bühne um gut 40, 50 Jahre voraus. Aber durch die Maler des tief in seiner italienischen Heimat verwurzelten Quaglio-Clans hatte München einen echten Theatertrumpf zu bieten. Der sah sich übrigens selbstbewusst in der Nachfolge der Altvorderen Tintoretto oder Veronese, die Perspektivmalerei lag der bereits unter den bayerischen Kurfürsten verpflichteten Künstlerfamilie schließlich im Blut.
Überhaupt wurde am Nationaltheater Wert auf Kontinuität gelegt, auch auf die gestalterische Handschrift – ob der letzte der Quaglios, Angelo II, nun von Heinrich Döll unterstützte wurde oder vom äußerst begabten Christian Jank, den Ludwig II. nicht ohne Grund für seine Schlossprojekte engagierte. Bis in die 1960er Jahre hinein hat mit Helmut Jürgens noch ein Chefausstatter gewirkt, später waren es dann prägende Bühnenbildner und Regisseure wie der innovative Jean-Pierre Ponnelle oder der ungemein vielseitige Jürgen Rose.
Doch dieses frühe Fokussieren auf die Inszenierung kam nicht von ungefähr. Die Münchner Oper wurde von Anfang an auf ein Repertoiretheater getrimmt, für Kompositionsaufträge fehlte das nötige Kleingeld. Also versuchte man sich mit einer möglichst prägnanten Umsetzung beliebter oder kürzlich erst uraufgeführter Werke. Manchmal entstand dabei fast ein neues Stück, denn wer wollte es sich schon mit dem Publikum verderben?
Werktreue gibt's nicht
Karl Theodor von Küstner, der überaus versierte Hofintendant unter König Ludwig I., hat zum Beispiel schnell überrissen, dass er den katholischen Münchnern keine Oper vorsetzen konnte, in der die Romgläubigen die Bösen sind, weil sie Protestanten metzeln. Deshalb wurden Giacomo Meyerbeers „Hugenotten“ zwei Jahre nach der Pariser Uraufführung von 1836 kurzerhand nach London verlegt und gleich noch mit dem Titel „Die Anglicaner und Puritaner“ versehen. Vor allem das Bühnenbild war very british, statt Paris stand am Ende das Londoner Parlamentshaus in Flammen. Das zum Thema Werktreue.
Letztlich sind es vorwiegend die Bilder und das räumliche Erlebnis, das die Erinnerung an eine konkrete Inszenierung bestimmen. Durch die rasende Entwicklung technischer Möglichkeiten, durch Videos und die perfekte Beleuchtung schiebt sich der visuelle Part der Oper noch mehr in den Vordergrund. Und der Szenograph sitzt mittlerweile am Computer, gemalt wird kaum noch. Deshalb wirkt Georg Baselitz mit seinen über 100 Handskizzen wie ein Relikt aus bald vergangenen Tagen. Aber das ist ja das Schöne am Münchner Musiktheater, vieles hat Platz und darf sich nebeneinander behaupten. Der Spiegelsaal, in dem Medientüftler Christian Schmidt 16 Produktionen aufeinander rauschen lässt, bringt das fabelhaft auf den Punkt.
„Vision und Tradition“, bis 14. April im Deutschen Theatermuseum München, Galeriestraße 4a (am Hofgarten), Di bis So von 10 bis 16 Uhr, Katalog (Henschel Verlag) 34,95 Euro