Urig und griabig: Die Münchner und ihre Almkultur
Als die Einwohnerzahl Münchens 1957 die Million überschritt, sprach man gerne vom "Millionendorf". Schon davor – wohl seit der Prinzregentenzeit – war es Münchnern irgendwie peinlich, in einer Großstadt zu leben. Bis heute jagen typische Großstadtphänomene wie Streetart oder an der frischen Luft feiernde Jugendliche den Bewohnern unserer schönen Stadt einen Schauer über den Rücken. Man möchte es lieber "griabig" haben. Oder "urig", der letzten Steigerungsform von Griabigkeit. Nur möglichst mit fließend Warmwasser und ohne Plumpsklo.
Die Münchner und die Almen
Der seltsamste Auswuchs dieses Unbehagens an der Großstadt ist die Trachtenwut während des Oktoberfests. Gleich danach aber kommen die Almen. Die älteste ist wohl die Kugler-Alm bei Oberhaching, die in einer flachen Ebene steht, wo der Alpenblick wegen der sie umgebenden Fichtenplantage des Perlacher Forsts eine Glückssache ist.
Almen zwischen Industriebauten
Heute breiten sich Almen überall dort aus, wo in München nur ein Hauch von Großstadtgefühl inmitten ehemaliger, meist kulturell genutzter Industriebauten auftaucht. Auch auf dem Gelände des Gasteig HP8 hat sich hinter der ehemaligen Trafohalle eine solche Hütte angesiedelt - offiziell wegen eines Wasserschadens, der den Restaurantbetrieb in einem der Modulbauten unmöglich macht.
Letztendlich aber war eine Alm zwischen den glatten Metallfassaden, unverputzten Altprovisorien unvermeidlich. Sonst hätte man fürchten müssen, heimlich nach Berlin oder Gelsenkirchen entführt worden zu sein. Und wäre für einen Münchner das Allerschlimmste, was man sich vorstellen kann.
Schafe auf Dächern
Im Werksviertel dämpfen Neubauten den herben Charme. Für eine weitere Abmilderung sorgen eine "Knödelalm" und ein Hüttchen auf einem der Dächer, wo sogar Schafe gehalten werden, um den oder die innere Senner*in des modernitätsängstlichen Großstadtbewohners zu streicheln.

Von der Urschuld der Städtebewohner
Natürlich sind alle diese Almen ungefähr so "urig" wie ihre Gegenstücke in Ischgl zur industriellen Touristenabfütterung. Aber ein paar roh belassene Baumstämme beruhigen offenbar irgendeine Urschuld des Städtebewohners, der auch nach vier oder fünf Generationen noch immer von einem schlechten Gewissen geplagt wird, weil seine Vorfahren den Bauernhof verlassen haben und in die Stadt gezogen sind. Dabei wird vergessen, dass einen damals nicht nur die ökonomische Not nach München trieb, sondern bisweilen auch die dörfliche Dimpfeligkeit.
Nun, im 21. Jahrhundert, geht auch das Industriezeitalter zu Ende. Was danach kommt, wissen wir noch nicht - sicher aber keine Renaissance von Bauerntum und Almwirtschaft. Daher wird's Zeit, die paar Industriebrachen in München vor Almen zu schützen. Und für alle, die Hunger kriegen, tut es auch ein großstädtischer Currywurststand. Oder eine gute österreichische Würstelbude.
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