"To be seen. Queer Lives 1900 bis 1950": Freiräume und Netzwerke

"Ich will ich sein, anders will ich nicht sein. Ich will leben, wie ich will. Und will lieben, wen ich will." Rio Reiser (1950 - 1996) ist im Grußwort zur Ausstellung "To be seen. Queer lives 1900 - 1950" im NS- Dokumentationszentrum der perfekte Zitatgeber für Bundeskulturministerin Claudia Roth, die Reiser und seiner linken Kult-Band "Ton Steine Scherben" als Managerin einst verbunden war.
Zu einer Zeit, als der Paragraph 175, der Homosexualität bis 1994 unter Strafe stellte, galt, lebte der Sänger offen seine Homosexualität. Und der schmale Mann mit den dunkel umrandeten Augen, der in seinem Hit "König von Deutschland" sang "Ich hätte zweihundert Schlösser, und wär' nie mehr pleite. Ich wär? Rio I., Sissi die II.", wirkte - damals noch nicht so benannt - faszinierend genderfluide. Was uns hier und heute selbstverständlich erscheint, war es damals keineswegs, und ist es auch heute in vielen Ländern nicht.
"To be seen" zeigt die Vielfalt diverser Lebensentwürfe
"To be seen" zeigt die Vielfalt diverser Lebensentwürfe zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nachkriegs-BRD. Man sieht und lernt viel über uneindeutige Körper, schillernde Geschlechtsidentitäten und fluide Rollenbilder. Laut Direktorin Mirjam Zadoff geht es nicht nur um Verfolgung und "Kontinuität der Ausgrenzung" von Menschen, die heute als Teil der LGBTIQ*-Community gelten, während und nach der NS-Zeit. Sondern auch um Selbstermächtigung, den Kampf um "Normalität", um Freiräume und Netzwerke, die sich zwischen den beiden Weltkriegen bilden konnten - und von den Nazis zerstört wurden. Gefördert wurde die umfassende Präsentation mit 250 000 Euro von der Bundeskulturstiftung.
Dabei legt die Schau den Fokus auf Münchner Protagonist*innen, und zeigt zugleich Berlins nicht gerade heteronormative Subkultur der Zwanziger Jahre - die auch den Mainstream prägte. Exemplarisch werden Persönlichkeiten vorgestellt wie die Münchner Frauenrechtlerin und "Atelier Elvira"-Fotografin Anita Augsburg und die Ärztin und lesbische Aktivistin Johanna Erbelskirchen, der Münchner Vorkämpfer der Schwulenbewegung August Fleischmann und Karl Heinrich Ulrichs, der sich als Jurist für die Rechte von Homosexuellen einsetzte.
1934 begann die öffentliche Verfolgung von Homosexuellen
Die bahnbrechende Rolle Magnus Hirschfelds und seines privaten Berliner "Instituts für Sexualforschung" als Ambulanz für Leute in sexuellen Nöten werden ebenso beleuchtet wie die rechten Männerbünde, in denen der "schwule Nazi" Ernst Röhm unterwegs war. Nach dessen Ermordung in Stadelheim 1934 begann die offene Verfolgung von Homosexuellen, Zehntausende wurden mit dem Rosa Winkel gebrandmarkt, ins KZ gesperrt und ermordet.
Am spannendsten sind tatsächlich die einzelnen Lebensläufe, etwa der niederländischen Zwangsarbeiterin Marie Vaders, die im Giesinger Agfa-Werk Zeitzünder bauen musste und den Todesmarsch überlebte. Ein Foto wiederum zeigt die französische Schriftstellerin Claude Cahun im Mai 1945 mit einem Reichsadler zwischen den Zähnen. Sie war als Jüdin, Kommunistin und Homosexuelle 1944 zu Tode verurteilt und im Februar 1945 begnadigt worden.
Knubbelige Aliens beim Liebesspiel
Illustriert wird der dokumentarische Part der Schau mit künstlerischen Zeitzeugnissen, zum Beispiel einer "Hermaphroditen"-Plastik von Jeanne Mammen, Christian Schads Lithografie "Liebende Knaben" oder den ätherischen Männerbildern des Münchner Fotografen Herbert List.
Ergänzt wird "To be seen" darüber hinaus mit Werken zeitgenössischer Künstler, die sich durch alle vier Geschosse der Dauerausstellung ziehen. Da zeigt Jonathan Penca knubbelige Aliens beim Liebesspiel, Mikolaj Sobczak schuf die pointierte Plastik "Pink Triangles Against Capitalism". Eindrucksvoll ist Zoltán Lesis und Ricardo Portilhos Buchcollage "In Frauenkleidung" und als Installation wirkungsvoll das "Wall Necklace Piece" von Pauline Boudry und Renate Lorenz.
Doch wie schon 2019 bei der Schau "tell me about (yesterday) tomorrow" ist das Konzept auch diesmal ambitioniert, aber letztlich zu viel des Guten: Die Kunst bietet im Kontext des Dokumentarischen kaum Erkenntnis-Mehrwert.
Bis 21. Mai, Di - So, 10 bis 19 Uhr, Eintritt frei, umfangreiches Begleitprogramm unter www.nsdoku.de.