Sammlung im Lenbachhaus: Immer nah an der documenta

Es ist ganz erstaunlich, wie sehr die Großausstellung auf die Sammlungspolitik des Lenbachhauses ausgestrahlt hat. Im Detail zeigt das jetzt die Schau "Was von 100 Tagen übrig blieb".
von  Roberta De Righi
Gabriele Münters "Stillleben Grau" ist 1910 entstanden und war 1957 auf der allerersten documenta ausgestellt. Das Ölbild steht den Stillleben Alexej von Jawlenskys und der französischen Tradition nahe.
Gabriele Münters "Stillleben Grau" ist 1910 entstanden und war 1957 auf der allerersten documenta ausgestellt. Das Ölbild steht den Stillleben Alexej von Jawlenskys und der französischen Tradition nahe. © Städtische Galerie im Lenbachhaus/Gabriele Münter Stiftung 1957/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018

München - "Da kommt Ihr also wieder mal zusammen und schwätzt und lügt und redet Scheiße um Eures Vorteils willen. Jeder hält sich und seinen Kram für bestechend, ohne zu merken, wie bestochen er ist." In einem wütenden Brief wandte sich die Künstlerin Charlotte Posenenske 1968 gegen die documenta-Macher.

Ursprüngliches Ziel der "documenta" in diesem Jahr verfehlt

Dabei sollte die Kassler "Weltkunstschau" seit ihrer ersten Ausgabe 1955 für Aufbruch, Diskursfreude und (Welt-)Offenheit stehen. Das hat meist funktioniert; die documenta fifteen mit ihrem Antisemitismus-Eklat und dem Umgang damit dürfte das aber verhagelt haben.

Kam nach ihrem Auftritt auf der der documenta 2017 ans Lenbachhaus: Miriam Cahns "o.T., 26.01.2003!" von 2003, Schenkung der Künstlerin und der Galerie Meyer Riegger.
Kam nach ihrem Auftritt auf der der documenta 2017 ans Lenbachhaus: Miriam Cahns "o.T., 26.01.2003!" von 2003, Schenkung der Künstlerin und der Galerie Meyer Riegger. © Städtische Galerie im Lenbachhaus/© Miriam Cahn

Als man die Ausstellung "Was von 100 Tagen übrig blieb… Die documenta und das Lenbachhaus" erarbeitete, konnte man nicht ahnen, dass sie heuer vorwiegend Negativ-Schlagzeilen produziert.

Lenbachhaus zeigt alte Ausstellungsstücke

Wenn Lenbachhaus-Direktor Matthias Mühling nun feststellt, "Die documenta war nie nur eine Ausstellung, sie war immer auch ein Medienereignis", hat er den aktuellen Skandal aber durchaus im Blick. Waren die bisherigen 14 Ausstellungen wichtige "Impulsgeber" (Mühling) für die Ankaufspolitik der Museen, so hat die d15 ihre Rolle diesbezüglich aber wohl verspielt.

Dennoch und gerade deshalb ist die umfangreiche Präsentation im Lenbachhaus, die sich über zwei Geschosse bis in die historischen Räume zieht, erhellend. Denn darin hält das Haus Inventur mit Blick nach Kassel: Das kuratorische Duo Eva Huttenlauch und Dierk Höhne durchforstete die eigenen Bestände nach Werken (Leihgaben und Ankäufe), die auf einer documenta zu sehen waren. Und wurden - von Marc und Münter auf der allerersten bis Nevin Aladag und Miriam Cahn auf der von 2017 - fündig.

Um weder sich selbst noch das Publikum zu unterfordern, werden darüber hinaus - wie in der vorausgegangenen Schau "documenta. Politik und Kunst" im Berliner DHM - jeweilige Neuerungen und Erweiterungen des Kunstbegriffs, gesellschaftspolitische Zusammenhänge - und historische Altlasten aufgezeigt.

Anspruch und Wirklichkeit der Ausstellung klafften auseinander

Dafür reichen mitunter Wandtexte nicht aus. Gerade die jüngste Forschung zur NS-Vergangenheit des Mitbegründers Werner Haftmann zeigt, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in Kassel auseinanderklafften. Und dass schon der Gründungsmythos als Neuanfang nach der Katastrophe von Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg im Grunde BRD-"Agitprop" war: Dass die ersten Schauen unter Arnold Bode und Haftmann mit der Hinwendung zur Abstraktion als demonstrative Geste der Westbindung instrumentalisiert wurden, arbeitete man in Bonn deutlich heraus.

Isa Genzkens "New Buildings for Berlin 1 and 2" (2003).
Isa Genzkens "New Buildings for Berlin 1 and 2" (2003). © Simone Gänsheimer/Lenbachhaus/Sammlung KiCo/© VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Haftmann indes war für den documenta-Bezug zum Lenbachhaus von Bedeutung. Der Kunsthistoriker, SA- und NSDAP-Mitglied, war 1936-40 am Kunsthistorischen Institut in Florenz und führte ab 1944 eine Panzerkorps-Einheit, die in der Toskana Partisanen folterte und erschoss, wie der italienische Historiker Carlo Gentile herausfand. Nach dem Krieg lebte er, als Kunst-Experte u. a. bei der "Zeit" und dem BR vielbeschäftigt, lange Jahre u. a. im Münchner Umland und am Tegernsee.

Jüdische Kunst blieb bei der ersten Schau außen vor

Weil man in Kassel anfangs keineswegs Gegenwartskunst ausstellte, sondern den Anschluss an die Vorkriegs-Avantgarde suchte, holte er u. a. Kandinsky-Skizzen aus dem Lenbachhaus-Depot. Er war es auch, der für die d1 Münters "Stillleben in Grau" und Marcs "Rehe im Schnee" herbeibrachte. Werke des jüdischen Künstlers Hermann Levy, der im KZ ermordet wurde, ließ er außen vor.

Während er 1964 u. a. Fritz Koenig und Alfred Kubin und von hier nach Kassel schickte, kamen umgekehrt Beuys' "Bienenkönigin" und ein Gemälde Asger Jorns her. Ab der documenta 4 (1968) war Haftmann nicht mehr im Boot. Aus der von Manfred Schneckenburger verantworteten d4 fand u.a. Oyvind Fahlströms plüschige Vietnam-Krieg-Collage in die Sammlung.

Die d5 1972 kuratierte der später legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann, mit Katharina Sieverdings Video-Installation wurde danach erstmals die Arbeit einer documenta-Teilnehmerin fürs Haus angekauft. Rupprecht Geiger war auf der 6. documenta zu sehen, von Ellsworth Kelly stammt ein Raum mit drei monochromen Großformaten von Jan Hoets documenta IX (1997); Gerhard Richters fortlaufendes Atlas-Bildarchiv wiederum von Catherine Davids nachhaltig wirkender documenta X.

Anteil an Künstlerinnen immer weiter gestiegen

Dass von Enwezors D11, die 2002 den Fokus auf die Kunst des "Globalen Südens" richtete, im Lenbachhaus ausgerechnet eine Skulptur von Isa Genzken blieb, mag davon zeugen, dass die Ankaufspolitik in dem Fall lieber auf Nummer sichergehen wollte. Videos der indischen Künstlerin Tejal Shah kamen erst 2020 als Schenkung der Galeristin Barbara Gross.

Die streitbare Charlotte Posenenske jedenfalls schaffte es erst nach der d12 von Roger M. Buergel und Ruth Noack (2007) mit sperrigen Skulpturen in die Kollektion. Immerhin wurde der Frauenanteil in den letzten 45 Jahren kontinuierlich erhöht. Aladags Musik-Möbel und Cahns schmerzhaft verzerrte Köpfe werden schließlich so klug wie wirkungsvoll in den historischen Räumen präsentiert. Da ist die Kunst dann endlich auch ganz bei sich.


Lenbachhaus, Luisenstraße3. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18, Do bis 20 Uhr

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.