Porträts von Menschen aus dem Bayerischen Wald: Weg vom Zwei-Sekunden-Blick

An diesen Gesichtern bleibt man hängen, in diesen Augen verliert man sich. Die Porträts, die Martin Waldbauer von Menschen aus dem Bayerischen Wald und aus Tschechien macht, berühren und beruhigen. Sie zeigen die "Spuren der Zeit" - unter diesem Titel sind derzeit Waldbauers Arbeiten in Landshut zu sehen.
AZ: Herr Waldbauer, wie nehmen Sie den Menschen die Angst vor der Kamera?
MARTIN WALDBAUER: Ich stelle keine große Angst vor der Kamera fest. Wenn jemand das Wagnis eingeht, porträtiert zu werden, ist die erste Angst ja schon weg, er stellt sich der Aufnahme. Es gibt natürlich auch ängstliche oder scheue Menschen, meist kommt das Fotografieren dann gar nicht zustande.
Und während Sie fotografieren?
Vorher rede ich mit den Leuten eine gewisse Zeit, wir sind uns also nicht ganz fremd. Ich mache maximal zehn Aufnahmen, und der Akt des Fotografierens dauert maximal fünf Minuten. Ich greife nur dann ein, wenn ich merke, der ist nicht bei der Sache - oder wenn ich mehr Potenzial sehe. Meistens sage ich dann ganz banal: "Denk an gar nichts." Und wenn der Mensch zu denken beginnt, dann sieht man das - es ist eine Mischung aus fragendem und interessiertem Blick. Wenn ich aber merke, das wird nichts, dann breche ich das auch ab.
Martin Waldbauer: "Meine Arbeit lebt viel vom Zufall"
Wo finden Sie Ihre Modelle?
Ich fahre an Orte, die ländlich geprägt sind, und gehe dann zu Fuß den ganzen Tag umher. Dann trifft man eben Menschen. Manchmal ist man auch ein Wochenende unterwegs und trifft niemanden. Meine Arbeit lebt viel vom Zufall. Es gibt auch Tage, da treffe ich drei interessante Leute. Ich habe wenig Scheu, ich spreche dieselbe Sprache wie die Leute hier und stamme selbst aus einer landwirtschaftlich geprägten Familie. Und die Leute, die ich porträtiere, sind meist handwerklich tätig, da kommt man schnell auf eine gemeinsame Ebene. Ich gehe gerne auf Leute zu. Da merkt man schnell, ob jemand zugänglich ist. Wenn dann das Charakteristische vom Gesicht her noch passt, ist das ein Geschenk.
Geht man auf dem Land eher aufeinander zu als in der Stadt?
Ich glaube, dass man in Niederbayern oder bei uns im Bayerischen Wald eher reserviert ist. Ich stelle aber immer wieder das Gegenteilige fest. Im letzten halben Jahr habe ich im Grenzgebiet zu Tschechien eine neue Serie begonnen. Ich spreche nicht Tschechisch, die Tschechen sprechen nur wenig Deutsch, Englisch ist auch schwierig. Man kann sich also sprachlich überhaupt nicht verständigen – und das bei einer so intimen Sache wie dem Fotografieren, die müssen mir ja auch vertrauen. Dann arbeiten wir mit Händen und Füßen, und es geht. Ich erlebe die Menschen immer als sehr, sehr offen. Vielleicht liegt es an mir. Ich habe nie schlechte Erfahrungen gemacht.

"Ich muss es nicht jedem recht machen, aber ich muss jedem gerecht werden"
Sie sind ja, verzeihen Sie, der Albtraum der Generation Instagram – obwohl Sie auf dem Medium auch aktiv sind: Alles, was die Filter dieser App selbst bei jungen Leuten wegzaubern sollen – Falten, Hautunreinheiten, Spuren des Lebens – zeigen Sie erst recht. Hat Sie schon mal jemand gebeten, etwas zu retuschieren?
Das könnte ich nicht, weil ich ja analog fotografiere. Ich arbeite nicht am Computer, sondern per Hand im Labor. Natürlich gibt es manchmal Menschen – eher Frauen, ältere Damen –, die ein anderes Schönheitsideal haben. Meine Bilder zeigen ja nicht unmittelbar das, was die Leute morgens im Spiegel sehen. Wenn man sich im Spiegel betrachtet, kann man seine unperfekten Stellen ausblenden, indem man das Licht wechselt oder in einige Spiegel nicht hineinschaut. Und ich zeige genau das nicht, ich zeige das Ungeschönte, dieses Direkte, das wirklich da ist. Natürlich kann ich bei der Entwicklung auf dem Papier viel modellieren, auch dramatisieren.

Worum geht es Ihnen da?
Für mich ist immer wichtig, dass die Augen einen gewissen Ausdruck haben, der in dieser Situation zu diesem Menschen passt. Und zweitens betone ich Stellen wie Furchen, Schatten, Narben oder dergleichen noch mal ein bisschen dramatisiert. Das ist einfach mein Stil – ohne den Menschen dabei zu entstellen. Mein Leitspruch ist: Ich muss es nicht jedem recht machen, aber ich muss jedem gerecht werden.
"Ich mache mein eigenes Ding"
Sie holen sich für Ihre Abzüge zum Teil Jahrzehnte altes Barytpapier aus aller Welt. Alles für die nostalgische Anmutung der Bilder?
Bei den Negativfilmen verwende ich frische, moderne Emulsionen. Das Negativ ist also perfekt, astrein, glatt. Jetzt könnte ich entweder auf ein modernes Barytpapier drucken – oder ich nehme ein 80 Jahre altes Papier, das in den 50er, 60er Jahren abgelaufen ist. Wenn ich diese beiden Bilder – modern und abgelaufen – vergleiche, bleibe ich immer wieder auf dem alten hängen. Das passt einfach am besten zu mir, das ist eine Gefühlssache. Das Papier hat eine Seele, es ist rauer, es ist tiefer, es ist schwärzer, es hat mehr Kontrast.
Wie kamen Sie auf das alte Papier?
Ich habe mit der Digitalfotografie begonnen, hatte meine erste große Einzelausstellung in Passau – und als ich die Bilder gesehen habe, war ich frustriert: Es war mir zu einfach. Da habe ich alles Digitale verkauft und mir die erste Kleinbildkamera gekauft. Dann kam die Frage nach dem Papier. Das Günstigste waren damals die alten Papiere bei Ebay. Die Abzüge wurden aber mit einem normalen Schwarzweiß-Entwickler gar nichts, flau und grau. Mit den Jahren habe ich dann, wie ein Chemiker, ein eigenes Verfahren entwickelt, das inzwischen so ausgefeilt ist, dass ich alle Papiere, die ich zu Hause habe, in verschiedensten Anmutungen printen kann. Das ist ein sehr technisches, aufwendiges Verfahren, aber das Ergebnis hat einen Unikat-Charakter. Dieses Erdige, Grobe, Raue, Kohlige sagt mir von der Ästhetik her am meisten zu.
Fast alle Ihre Bilder hätten auch im 19. Jahrhundert gemacht sein können. Wenn man nach Vorbildern sucht, würde man auch eher bei den Sozialfotografen des 19. Jahrhunderts schauen. Wer hat Sie geprägt?Ich mache mein eigenes Ding. Aber ich habe eine riesengroße Sammlung von Bildbänden von bedeutenden Malern und großen Fotografen zu Hause. Da gehören Leute dazu wie August Sander oder Robert Frank. Die machten etwas anderes als ich, sind mir aber von ihrem humanistischen Ansatz her am nächsten.
"Es ist im Grunde eine Auseinandersetzung mit dem Tod"
Mit Ihren Bildern verorten Sie den Bayerischen Wald im 19. Jahrhundert oder früher. Dabei blüht der Wald ja eigentlich ziemlich modern auf, auch als Eventregion. Ist das nicht ein Widerspruch?
Das passiert unbewusst. Wenn ich Aufträge in Hamburg und Berlin fotografiere, dann sehen die Bilder genauso aus. Das kommt aus meinem Inneren. Wenn man ein Porträt fotografiert, dann passiert das einfach. Ein Maler macht sich ja auch keine Gedanken, wie er den Pinsel in die Hand nimmt.
Die Vergänglichkeit ist bei den alten Menschen, die Sie fotografieren, noch stärker greifbar, als es bei jungen Leuten der Fall wäre.
Das Interessante an der Fotografie ist, dass sie immer etwas mit Vergangenheit und Vergänglichkeit zu tun hat. Es ist im Grunde eine Auseinandersetzung mit dem Tod: Das Bild ist aufgenommen, und dann ist es schon wieder vorbei. Ich will nicht einen bestimmten Moment dokumentieren, sondern die Spuren der Zeit eliminieren. Ich will auf dem Bild einen Zustand schaffen, durch den der Betrachter Vergangenheit, das Jetzt und vielleicht das, was noch kommt, sieht.
Ich finde es beruhigend, Ihre Bilder zu betrachten, weil sich die Menschen nicht so laut inszenieren, wie es in Sozialen Medien üblich ist.
Das höre ich oft. Aber auch, dass Menschen beim Betrachten meiner Bilder eine tiefe Angst vor der eigenen Vergänglichkeit spüren. Sie verleiten die Menschen jedenfalls dazu, länger hinzuschauen. Das ist ja mein Ziel: wegzukommen von diesem Zwei-Sekunden-Instagram-Blick. Sondern eine Auseinandersetzung anzuregen zwischen dem Betrachter und dem, was an der Wand ist. Das hat bei mir immer etwas mit den Augen zu tun. Ich kann das modellieren wie ein Bildhauer, dass die Augen der strahlende Fokus sind. Das innere Strahlen dringt durch die Augen nach außen.

"Ich arbeite ausschließlich mit natürlichem Licht"
Thema Strahlen: Benutzen Sie künstliche Beleuchtung?
Ich arbeite ausschließlich mit natürlichem Licht. Wenn ich also jemanden auf der freien Prärie treffe, dann muss ich schauen, wo ich ihn im Umkreis von 50 oder 100 Metern positionieren kann.
Die Menschen sind also in vertrauter Umgebung fotografiert.
Ich neutralisiere aber diese Umgebung, so dass nicht ersichtlich ist, wo sie sich befinden. Dadurch tritt das Thema, wann das Bild entstanden ist, so stark auf. So kommt aber die Auseinandersetzung mit dem Betrachter zustande. Das hat gar nichts mit Nostalgie zu tun, das passiert einfach.
Sie sind als Fotograf Autodidakt und damit auch bekannt geworden – aber Sie haben zwei andere Ausbildungen gemacht: Maschinenbau-Mechaniker und Arbeitspädagoge. Das kommt ja praktisch beides in Ihrer Fotografie zusammen: Technik und Menschen.
Ich bin beim Zivildienst in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung gelandet und bin dort bis heute tätig. Und ich habe sehr viel aus meinem Hauptberuf in die Fotografie mit hineingebracht. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch in einer solchen Berufsgruppe ist viel intensiver als bei einem Maschinenbauer oder Zeichner.
Waldbauers Bilder derzeit in Landshut ausgestellt
Derzeit sind Ihre Bilder in der Neuen Galerie in Landshut zu sehen. Was zeigen Sie dort?
Es sind im Obergeschoss Bilder aus der Serie "Spuren der Zeit", großformatige Porträts von Menschen aus dem Bayerischen Wald, Lehrer, Sozialpädagogen, Bauern, Handwerker, Holzhauer, Herumtreiber, Handlanger. Im Untergeschoss hängen Landschaftsaufnahmen, Stillleben, Handstudien und solche Dinge.
Sie fotografieren Ihre Porträts mit Mittelformatkameras. Was waren denn die letzten Fotos, die Sie mit dem Handy gemacht haben?
Ich mache täglich Fotos mit dem Handy, wenn ich zum Beispiel mit der Familie unterwegs bin - Aufnahmen, die einfach Erinnerungen sind. Oder wenn ich Bilder von einer Ausstellungseröffnung für Instagram brauche.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. August in der Neue Galerie im Gotischen Stadel (Badstraße 4) auf der Mühleninsel in Landshut zu sehen.