Pinakothek der Moderne: Frischluft für den Hocker
München - Ein bisschen ist es so, als würden im April Lebkuchen und Schoko-Nikoläuse in die Supermarktregale kommen. Corona hat vieles durcheinandergebracht, auch die Ausstellungsprogramme.
Doch warum nicht im November vor Anglerhocker und Colani-Liege dem Sommer nachträumen? Also dem Leben "Im Freien", das gerade wieder ziemlich unwirtlich geworden ist, zumal die erneut ganz unverfroren aus den Wirtsgärten schießenden Heizpilze, mit Verlaub, ja eh keine Lösung sind.

Drinnen, im Souterrain der Pinakothek der Moderne, stehen nun Klappstühle, Isolierkannen, schicke Räder und stylische Roller - wir sind schließlich im Designmuseum Die Neue Sammlung -, dazu ein modulares Kajak, Kletterseile und eine komplette DDR-Campingausrüstung mit Kochgeschirr, Taschenempfänger und zusammengestöpselten Eierbehältern.
Die machen nur wenig mehr Sinn als die Tupper-Bananenbox, doch immerhin demonstrieren sie, dass das Kinderüberraschungsei genaugenommen vom Fernseh- und Radiogerätedesigner Horst Giese für das VEB Preßwerk Tambach in Thüringen erfunden wurde. Wie so vieles für draußen.
Campen im Osten Deutschlands: Eine Spur Abenteuer
Im Osten Deutschlands war das Campen nicht zuletzt wegen der eingeschränkten Reisemöglichkeiten höchst attraktiv. Man genoss die Freiheit und die kleinen Freiheiten vom Alltag, einen Hauch Individualität, eine Spur Abenteuer, das Improvisieren und sowieso die Natur.
Damit man relativ ballastarm losziehen konnte, musste das Mobiliar leicht sein, gut verstau- und stapelbar. Da fallen die Stühlchen schon etwas mickrig und klapprig aus, aber das gehört so. Überall auf der Welt. Gleichwohl wurde in der DDR mit besonders viel Hingabe an solchen Entwürfen gefeilt. Und wer weiß, wohin die Reise noch gegangen wäre.

Dabei sind die Lösungen prima und völlig ausreichend. Die Bestrebungen der neueren Outdoor-Industrie, eine auffaltbar-kuschelige Loungeatmosphäre samt Kaiserschmarrn-Hüttenzauber auf den Himalaja zu hieven, pendeln dagegen zwischen Abstrusität und Widersinn.
Bleibt man dann nicht lieber gleich daheim und lümmelt sich im Gartensessel an der frischen Luft, den Kühlschrank in Reichweite? Der kugelrunde "Sunball", den der Bildhauer Günter Ferdinand Ris und der Architekt Herbert Selldorf 1969 im Auftrag der Rosenthal AG entworfen haben, ist dafür geradezu ideal.
Gartenstühle der vorletzten Jahrhundertwende haben ästhetischen Reiz
Diese futuristisch-komfortable Weiterentwicklung des Strandkorbs für den fein gestutzten Rasen bietet sogar Abschirmmöglichkeiten vor den Blicken der Nachbarn: Man zieht einfach die Visierschale nach unten.
In politisch längst nicht mehr korrekten James-Bond-Filmen schwamm Vergleichbares im Ozean, und 007 konnte in Damenbegleitung rasch der Überwachung durch den eigenen Geheimdienst entkommen. Der "Sunball" besitzt obendrein ein Tabletttischchen, der Wodka Martini stünde also ungerührt zur Seite.
Dennoch haben vor allem die Gartenstühle der vorletzten Jahrhundertwende ästhetischen Reiz. Und bis auf den Rundumgestalter Richard Riemerschmid kann man die Holz- und Metallkonstruktionen noch nicht einmal konkreten Entwerfern zuordnen.
Aber sofort lassen sie an impressionistische Blumengärten denken, an Lauben und andere Behaglichkeiten vergangener Tage. Das heißt, für diejenigen, die es sich leisten konnten, dort zu sitzen und sich die Zeit zu vertreiben. Bei einer Limonade, einem duftenden Kaffee, den das Hausmädchen mit der weißen Schürze serviert hat - und eben nicht bei einer Pizza, die der womöglich schlechter behandelte Bringservicemitarbeiter unter Zeitdruck vorbeistrampeln muss.
Apropos Pizza. Es gibt inzwischen sogar eine Sammelbox für die leeren Pappschachteln. Ausgedacht hat sie sich Klaus Schätzle ("eine Schnapsidee"), seines Zeichens Schlosser bei den Technischen Betrieben im badischen Waldkirch. Man denkt unwillkürlich an einen Komposter und fragt sich mehr noch, ob in der Nähe von Freiburg dermaßen viele Abholpizzen gefuttert werden, dass es so einen stabilen Ablagekäfig aus Metall braucht.
Ausgerechnet der gute alte Schlafsack fehlt
Doch wer weiß, wie es dort sonst aussehen würde, nachdem durch Corona oft in Parks gespeist wird und mancher plötzlich denen nachfühlen kann, die selten an einem gedeckten Tisch Platz nehmen. Direkt über dem Schaubereich der Neuen Sammlung erzählt auf Erdgeschossebene eine Ausstellung von der Obdachlosigkeit, und man realisiert, dass Lust schnell in Leid kippen kann. Sich im Freien aufzuhalten, hat viel mehr Facetten, als man ahnt. Schon deshalb lohnen sich beide Etagen.
Was erstaunlicherweise fehlt, ist keineswegs die enervierende Grillerei, sondern der gute alte Schlafsack. Den braucht man beim Zelten, der hilft, auf der Straße zu überleben. Und es gibt ein Objekt, das oben und unten eine famose Ergänzung gewesen wäre: Der niederländische Modedesigner Bas Timmer hat vor mittlerweile sieben Jahren einen sogenannten "Sheltersuit" kreiert. Das ist ein Mantel mit Kapuze, der mit wenigen Griffen zum Schlafsack umfunktioniert werden kann. Er wärmt, hält trocken und wird aus Recycling-Material genäht. Praktisch, schön und überhaupt ein tolles Ding. Ob man nun die Bleibe verliert, es drinnen einfach nicht aushält oder aus freien Stücken rausgeht.
"Ins Freie" in der Pinakothek der Moderne, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr
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