Olympia-Architektur in München: Gebaute Demokratie

"Eine leichte Wolke über dem braunen Oberwiesenfeld" hat Frei Otto unter eine auf "67/68" datierte Skizze geschrieben. Mit wenigen Strichen und ein bisschen Wasserfarbe brachte der Architekt und selbst ernannte "Schöpfer von Luftschlössern" eine Vision auf den Punkt: das Zeltdach des Münchner Olympiastadions und damit eine bald schon Realität gewordene Utopie.
Olympia-Architektur in München: Die Sache hätte gewaltig schief gehen können
Man könnte auch von Nicht-Architektur sprechen oder von einem Bauwerk, das in seiner geschwungenen Transparenz jede Schwere verneint und sich am liebsten gleich wieder auflösen möchte. Eben wie eine Wolke. Das ist der Höhepunkt eines Areals, das vor einem halben Jahrhundert zum Wahrzeichen Münchens geworden ist und nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.
Im Gegenteil. Je intensiver man sich mit den Olympischen Spielen von 1972 und dem damit verbundenen Aufbruch in die gestalterische Moderne beschäftigt, desto erstaunlicher wird dieses ganze Unternehmen. Denn was sich Frei Otto zunächst für einen Pavillon zur Expo 1967 im kanadischen Montreal ausgedacht hatte, war ja nicht dazu bestimmt, mit der zehnfachen Spannweite von 75.000 Quadratmetern über 80.000 Menschen zu schweben. Die Sache hätte gewaltig schief gehen können. Aber genau diesen Wahnsinn des im Grunde nicht Machbaren hatte sich das von Otto inspirierte Stuttgarter Architektenteam um Günter Behnisch, Fritz Auer und Carlo Weber in den Kopf gesetzt.
Ausstellung in der Pinakothek der Moderne
Bei der Bewerbung um die Spiele wurde 1966 in Rom allerdings noch das Modell eines mächtigen Stadions vor einer immensen Betonplatte vorgeführt. Das ist eine der vergessenen oder verdrängten Tatsachen, die jetzt in einer formidablen, von Irene Meissner kuratierten Ausstellung im Architekturmuseum der Pinakothek der Moderne wieder aufs Tapet kommen. Mit dieser riesigen Fläche wollten die Architekten Rüdiger Henschker und Wilhelm Deiss Münchens künftige Stadtautobahn, den Mittleren Ring, abdecken.
Das alles war Teil eines 1963 beschlossenen, auf 30 Jahre hin angelegten Entwicklungsplans unter Federführung von Herbert Jensen, der neben Entlastungssiedlungen wie Neuperlach oder Freiham genauso den Bau der kreisförmig um den Stadtkern gelegten Ringstraßen vorsah, also des Altstadtrings und Mittleren Rings, ergänzt um einen Autobahnring, der den Fernverkehr um München herumführen sollte.
München '72: Bundesrepublik als weltoffene junge Nation
Überzeugt hatten das Internationale Olympische Komitee (IOC) dann vielmehr die "menschlichen Spiele im Grünen", die trotzdem kurzen Wege – das Oberwiesenfeld liegt nur vier Kilometer vom Zentrum entfernt – und die konzeptionelle Einbindung von Kunst und Kultur. Das war der sympathische Gegenentwurf zum nationalistischen Gigantismus der Berliner Spiele von 1936.
Mit der Entscheidung für München, der einstigen Hauptstadt der Bewegung, bekam auch die Bundesrepublik die Chance, sich als weltoffene junge Nation zu präsentieren. Noch im Jahr zuvor hatte das IOC übrigens beschlossen, wegen des ständigen Gerangels die gesamtdeutsche Olympiamannschaft in ein BRD- und ein DDR-Team aufzuteilen. Und auch die nun folgenden Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Projekts Olympia 1972 mutet wie die Selbst(er)findung der demokratischen Bundesrepublik an. Denn gleich nach dem Zuschlag sprach sich der Landesverband Bayern im Bund Deutscher Architekten für die Ausschreibung eines Wettbewerbs aus.
Die Skepsis war groß
Um die 100 Arbeiten gingen ein, und unter dem Jury-Vorsitz des hoch renommierten Egon Eiermann wurden im Oktober 1967 die bekannten Entwürfe von Behnisch & Partner mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Dabei war die Skepsis groß, gerade bei den Fachleuten, die auf die ungeklärte Statik verwiesen. Doch Eiermann plädierte mit Nachdruck für diese "Architektur der Freiheit" mit ihrem "punktgestützten Dach" von "leichter Eleganz und Schmiegsamkeit, fern jeder Monumentalität".
Und durch die Mitarbeit von Frei Otto kam schließlich eine entscheidende Kompetenz in die Planungsgruppe. Er war der Einzige, der eine Ahnung von freien Flächentragwerken hatte. Dennoch wurde über Monate getüftelt und ausprobiert, vom Modellbau mit Nylonstrümpfen und Holzstäbchen erzählt der mittlerweile 89-jährige Fritz Auer bis heute amüsiert. Und während man noch nach Lösungen suchte, rollten auf dem Gelände längst die Bagger. Das wäre heute völlig undenkbar.
Aus 500 Millionen werden 2 Milliarden D-Mark
Es brauchte aber genauso die politischen und gesellschaftlichen Fürsprecher, um das Vorhaben gegen die teils massiven Widerstände durchzusetzen. In diesem Fall haben Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und NOK-Präsident Willy Daume bei allen parteipolitischen Differenzen an einem Strang gezogen.

Natürlich wurde das Dach ständig teurer. Jedes Detail war eine Spezialanfertigung, die Acrylbauteile eine hoch diffizile Angelegenheit, sodass sich das Budget auf rund 200 Millionen Mark verzehnfachen sollte. Überhaupt waren aus den vorgesehenen 500 Millionen bei der Bewerbung am Ende 2 Milliarden D-Mark geworden.
Die U-Bahn musste im Eiltempo fertig werden
Doch in den vier, fünf Jahren bis zur Eröffnung der Sommerspiele am 26. August 1972 wurde auch ein städtebauliches Programm durchgezogen, für das es unter normalen Umständen 15 bis 20 Jahre benötigt hätte. Schon, um die vielen internationalen Besucher zu den Stadien zu bringen, musste die U-Bahn im Eiltempo fertig werden. Insofern war Olympia 72 auch der Katalysator für die Modernisierung einer ausgesprochen rückwärtsgewandten Stadt. Zumal München in vielerlei Hinsicht an Grenzen gestoßen war.
Das begann beim enormen Zuzug nach dem Zweiten Weltkrieg und endete im Verkehrskollaps. Um 1970 war die Zahl der Autos förmlich explodiert, und erst U- und S-Bahn erlaubten es, den Verkehr aus der Innenstadt zu verbannen und Fußgängerzonen im großen Stil auszurufen.
Olydorf war von Anfang an als neues Wohnviertel geplant
Auf der anderen Seite – das vergisst man gerne in der 72er-Euphorie – fielen dieser Turbo-Umgestaltung auch Bauten zum Opfer, die man heute nicht mehr so einfach abreißen würde. Aber die dringend benötigte neue Verkehrsstruktur und die Wohnungsnot hat Zweifel oft gar nicht erst aufkommen lassen. Und das Olympische Dorf für die Unterbringung der Sportler war von Anfang an als neues Wohnviertel geplant, wenngleich die Anlage nach dem Ende der Spiele für Monate einer Geisterstadt glich.
Mit dem Sichtbeton haben die Münchner gefremdelt, doch allmählich wurde das dicht bebaute Gebiet zwischen BMW Werken und Olympiapark ein grünes Vorzeigequartier mit geringer Fluktuation. Es gibt alles, was man zum Leben braucht, vom Gemüsehändler bis zu Kultureinrichtungen. Autos sind sowieso nie auf der Bildfläche erschienen, die wurden von Beginn an unter die Erde verbannt.
Olympiapark: Oberbayerische Voralpenlandschaft im Miniaturmaßstab
Was man freilich erst im Zuge eines ökologischen Bewusstseins richtig zu schätzen weiß, ist der Olympiapark. Angelegt auf den Kriegstrümmern der Stadt wirkt er durch seine Hügel, einen veritablen Aussichtsberg und den langgezogenen See wie eine oberbayerische Voralpenlandschaft im Miniaturmaßstab.

Diese grüne Lunge trägt ganz erheblich zur Lebensqualität im Münchner Norden bei, und was sich Günther Grzimek vor über 50 Jahren ausgedacht hat, wird heute als neue bürgernahe Idee verkauft: Der Landschaftsarchitekt konzipierte einen Park für alle, das Betreten der Rasenflächen war ausdrücklich erwünscht, genauso das Picknicken oder Ballspielen und sogar das Pflücken der Blumen. Grzimek wusste um die Bedeutung urbaner Grünflächen - und das in einer Zeit, als quer durch die Republik auf Teufel komm raus versiegelt wurde, um nur ja autofreundlich daherzukommen.
Olympiapark bei Wind und Wetter gut besucht
Doch wie hält man einen solchen Schatz über die Jahre attraktiv? Der Park wird selbst bei schlechtem Wetter leidenschaftlich besucht. Die Wettkampfstätten in Schuss und in Betrieb zu halten, ist schon deutlich schwieriger. Seit 1982 dient das Olympiastadion als größte Münchner Bühne für Open-Air-Konzerte. Durch den Umzug des Bundesliga-Fußballs 2005 in die Allianz Arena kam es dagegen zu kuriosen Konzepten, obwohl Sportanlagen und Park seit 1998 unter Denkmalschutz stehen.
Selbst Günter Behnisch hätte im Zuge der Bemühungen um die Weltmeisterschaft 2006 einer "fußballtauglicheren" Umgestaltung zugestimmt. Aber der damalige FC-Bayern-Manager Uli Hoeneß wünschte sich einen gewinnbringenden "Hexenkessel", und Präsident Franz Beckenbauer - wird der "Kaiser" nicht gerne als Lichtgestalt bezeichnet? - hatte den Knaller-Einfall, man könne die "Kommunistenschüssel", wie sie überall in Osteuropa stünde, doch von einem Terroristen sprengen lassen.
Zu diesem Irrsinn kam es bekanntlich nicht, und auch der im Oktober 2000 beschlossene radikale Umbau des Olympiastadions konnte dank eines Bürgerbegehrens und einer vom Münchner Architekten Uwe Kiessler in Auftrag gegebenen statischen Analyse verhindert werden. Und nun?
Olympiapark-Areal könnte in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen werden
Erst wurde der Rasen durch eine Asphaltbahn ersetzt, um etwa Rennsportveranstaltungen unters Zeltdach zu bekommen. Das wollte zur hochwertigen Architektur aber nicht passen, also wurde 2017 wieder Naturrasen ausgerollt – ganz aktuell treten hier bis 21. August die Athleten der European Championships an. Und an der Stelle des abgerissenen Radstadions entsteht eine neue Eis- und Basketball-Arena, deren größter Teil in der Tradition von Behnisch unter der Erde liegt.
Die Hoffnung ist groß, dass das gesamte Areal des Olympiaparks in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wird. Eine Entscheidung fällt frühestens 2026. Doch die Chancen dürften nicht schlecht sein. Fast alle Olympia- und Weltmeisterschaftsstadien dümpeln nach den Wettkämpfen mindestens in Trostlosigkeit vor sich hin. Nur in München steht ein umfassend genutztes Gesamtkunstwerk, das man nicht hoch genug schätzen kann.
"Die Olympiastadt München", bis 8. Januar 2023 in der Pinakothek der Moderne