Nackert, sündig - radikal

Der Münchner Künstlerfürst Franz von Stuck hat Tabus gebrochen und mit seinen Bildwelten weit in die Zukunft gewirkt
von  Christa Sigg

Mit glutvollen dunklen Augen schaut er von der Wand. Etwas Ungestümes lässt das Bild im Empfangssalon seiner Villa vermuten. Und so war auch die Karriere des Franz von Stuck: Mit Verve hat sich der Sohn eines Dorfmüllers aus dem niederbayerischen Tettenweis ganz nach oben gemalt, heiß begehrt waren seine Bilder, an der Akademie unterrichtete er spätere Berühmtheiten. Im Februar jährt sich der 150. Geburtstag des Künstlerfürsten – mit Margot Brandlhuber, seiner „Nachlassverwalterin” am Museum Villa Stuck, haben wir über radikale Bilder, ausgeklügelte Werbestrategien, Pathos und Erotik gesprochen.

AZ: Wir sind es gewohnt, nackte Haut zu sehen. Warum macht uns „Die Sünde” heute noch nervös?
MARGOT BRANDLHUBER: Es handelt sich um eine absolut ungewöhnliche Bildschöpfung. „Die Sünde” hat zwei Komponenten: Einerseits die biblische Eva, also die Frau, die mit dem Sündenfall für die Vertreibung aus dem Paradies sorgt. In der klassischen Version sind Adam und Eva mit der Schlange am Baum der Erkenntnis dargestellt.

Und Feigenblättern oder irgendwie verschämt.
Ja, aber bei dieser „Sünde” haben wir die Verknappung auf die nackte Eva, die – das ist die andere Komponente – als moderne Femme fatale auftritt. Sie zieht uns in den Bann, ist die Frau, die den Mann verführt und ihn das Leben kostet. Wir sehen hier einen hoch konzentrierten Ausschnitt, sind Auge in Auge mit Eva und der farbig gleißenden Schlange, eine unglaubliche Konfrontation. Dazu kommt dieser Tempelrahmen, der das Ganze zu einem Kultbild macht. Es wird eine neue Ikone geschaffen. Radikal und so unmittelbar, dass man ihr nicht entkommt.

Wie stand Stuck denn zur Sinnlichkeit?
In all seinen Bildern fällt eine unglaubliche Vitalität auf. Eine durchaus erotische Lust am Körper, die stets eine sportliche Komponente hat. Stucks ungebrochenes Verhältnis zu dieser Körperlichkeit ist im späten 19. Jahrhundert etwas Neues, das in Richtung Lebensreformbewegung weist – später realisiert am Monte Verità: Man will die Freiheit des Körpers, seine Schönheit und Vitalität wieder entdecken.

Hat er das selber gelebt?
Absolut. Stuck treibt Sport, lässt sich als Modell für seine Bilder nackt fotografieren, liebt Dynamik, ist ein früher Automobilist.

Und in erotischer Hinsicht? Er war doch braver Familienvater.
Vielleicht. Aber als Augenmensch nimmt er die neuen Tendenzen in der Gesellschaft genau wahr: den Kampf der Geschlechter, die frühe Emanzipationsbewegung, den Darwinismus und die sexuelle Selektion. Während all das debattiert wird, setzt Stuck es bereits in seinen Bildwelten um.

Stuck zählt zu den Vätern der Moderne. Aus heutiger Sicht ist das in seinen Bildern schwer nachzuvollziehen.
In seiner Zeit ist er Schöpfer völlig neuer Ausdrucksformen. Er schafft wie bei der „Sünde” neue Kombinationen, radikalisiert, indem er reduziert und aufs Wesentliche konzentriert – ein absoluter Tabubruch, inhaltlich wie formal.

Und das aus einer etablierten Position heraus.
Stuck ist kein Schiele, der sich allem Gesellschaftlichen entzieht. Stuck, niederbayerischer Müllerssohn, hat sich seinen Platz in der Gesellschaft erkämpft und nutzt diesen, um das Neue mit einer ganz anderen Wucht zu positionieren.

Die größten Schwierigkeiten haben wir heute wahrscheinlich mit dem Pathos, das Stucks Werk dominiert.
Mit seinen Themen formuliert Stuck bereits vor Carl Gustav Jung Archetypen, das ist zu dieser Zeit ein ganz wichtiger Schritt in die Moderne. Ziehen Sie die Parallele zu Sigmund Freud, der sich als Archäologe der Seele bezeichnet. Freuds Arbeitszimmer war ausgestattet mit antiker Kunst, er hat diesen Kosmos an Figuren vor sich und sieht, da gibt es Charaktere, eine immer wiederkehrende Typologie menschlicher Verhaltensweisen. Stuck macht etwas Vergleichbares, er zeigt den modernen Menschen im antiken Gewand, aber die Typen, die Verhaltensweisen, bleiben gleich.

Sie müssen aber zugeben, dass die malerische Qualität nicht selten zu wünschen übrig lässt.
Hier bedarf es der internationalen Perspektive. Die besten Werke Stucks, insbesondere die aus den ersten zehn Jahren, sind über die ganze Welt verstreut. Noch aus den Ausstellungen heraus haben Museen und Privatsammler seine Bilder erworben. Von Seattle bis St. Petersburg, von Amsterdam über Berlin bis Palermo hängen sie in den großen Häusern – und wenn man es schafft, diese Qualität nebeneinander zu zeigen, dann ist Stucks herausragende Rolle unumstritten.

Seine gesellschaftliche Rolle hat ihn ja auch beansprucht.
Er war ein Cäsar im Reich der Kunst, der sich dazu ein eigenes Kunstimperium geschaffen hat. Das geht weit über die Malerei hinaus. Stuck war in der Lage, eine Marke auszubilden mit den modernen Mitteln des „Corporate Design”.

Also auch ein Werbepionier?
Zu dieser Zeit ist es absolut innovativ, dass jemand sein Werk mit großer Strategie bekannt macht. Auch für die Münchener Secession 1892 entwickelt er dieses „Corporate Design” aus eigenen Werken und Motiven. Das ging vom Plakat bis zur Eintrittskarte. Es gab davor nichts Vergleichbares, das hatte Strahlkraft. Wien und Berlin kopierten dieses Erfolgsmodell.

Stuck etabliert sich in den folgenden Jahren ja auch als Künstlerfürst.
Und er macht alles selbst. Wenn der große Gesellschaftsmensch Lenbach ein Haus baut, dann lässt er bauen und kauft historisches Mobiliar, um es auszustatten. Stuck ist dagegen der Creator einer eigenen Welt. Auch wenn manches auf die Vergangenheit anspielt, wird man nie ein Vorbild finden, das er kopiert. Er geht völlig frei und selbstständig damit um. Das verbindet ihn mit dem Renaissancekünstler, der mit dem Zeichenstift alles entwerfen kann. Über die Malerei hinaus betrifft das den ganzen Lifestyle, Design, Mode. Berühmte Besucher der Villa Stuck – wie Yves St. Laurent und Pierre Bergé – waren völlig begeistert und haben versucht, die einzigartige Atmosphäre in ihren Lebenswelten nachzuinszenieren.

Kandinsky und Klee haben bei Stuck gelernt. Was nehmen seine Schüler mit?
Er ist sehr liberal, es interessiert ihn nicht, welchen Stil jemand mitbringt oder ob er sich für Landschaft, Figur oder Genre interessiert. Er nimmt auch nie den Stift in die Hand, um zu korrigieren. Als Professor für Komposition war es ihm wichtig, seine Schüler in der wahrnehmungspsychologischen Wirkung von Form und Farbe zu unterrichten. Das spielte in München eine wichtige Rolle, hier gab es die großen Psychologieprofessoren wie Theodor Lipps, die sich mit der abstrakten Wirkung von Formen und Farben aufs menschliche Gemüt beschäftigt haben. Stucks Bilder sind in den Formen äußerst reduziert, er verwendet wenige Primärfarben, bei ihm treffen Form und Farbe in Dynamik und Stimmungswerten aufeinander. Und das Funktionieren von Kunst auf einem relativ abstrakten Niveau, das lehrte damals niemand besser.

Dann sind wir doch überhaupt bei der Abstraktion.
Das ist der nächste Schritt. Stuck bereitet dafür den Boden. Und insofern ist er wirklich ein Vater der Moderne.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.