Gondeln bei Mondschein: Ein Deutscher hat die Romantik nach Venedig gebracht

Weshalb ist Venedig die Stadt der Sehnsucht? Weil der Maler Friedrich Nerly das Bild der romantischen Lagunenstadt geprägt hat – vor über 150 Jahren. Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung.
von  Christa Sigg
"Die Piazzetta bei Mondschein" – hier aus dem Jahr 1838 – ist schnell zu Friedrich Nerlys Bestseller geworden. Und das fast bis ans Lebensende des Künstlers. 36 Varianten sind überliefert, der Titel "Mondschein-Nerly" kommt also nicht von Ungefähr. Aber damit traf der Maler nicht nur einen Nerv, er erfand zugleich das hochromantische Venedig. Und mit seinen Gemälden ging dieses Image in die Welt hinaus.
"Die Piazzetta bei Mondschein" – hier aus dem Jahr 1838 – ist schnell zu Friedrich Nerlys Bestseller geworden. Und das fast bis ans Lebensende des Künstlers. 36 Varianten sind überliefert, der Titel "Mondschein-Nerly" kommt also nicht von Ungefähr. Aber damit traf der Maler nicht nur einen Nerv, er erfand zugleich das hochromantische Venedig. Und mit seinen Gemälden ging dieses Image in die Welt hinaus. © Dirk Urban/Angermuseum Erfurt

Vor dem Caffè Florian saß er jeden Abend. Am Eingang unter den Arkaden hatte Friedrich Nerly den Markusplatz im Blick und wichtiger: Er wurde gesehen und konnte in seiner "Loggia Nerly" Kontakte knüpfen. Denn dort, wo heute Touristen an ihrem 12-Euro-Cappuccino nippen und von schrappliger Livemusik umsäuselt Selfies in die Welt posten, trafen sich im 19. Jahrhundert die namhaften Venezianer, die Adabeis, aber auch die Fremden, die noch lange nicht in Horden auftraten.

Nerlys Atelier stand sogar im Baedeker

Das Florian stand als ältestes italienisches Kaffeehaus natürlich im Baedeker sowie in John Murrays "Handbook for Travellers", genauso wurde ein Abstecher in Nerlys Atelier im Palazzo Pisani empfohlen. Sozusagen als Anlaufstelle für exklusive Souvenirs, das heißt, für völlig neuartige Venedig-Bilder, die weit über die üblichen Veduten oder Stadtansichten hinausgingen. Selbst von so hochkarätigen Künstlern wie Canaletto oder Guardi.

Mit Darstellungen der "Piazzetta bei Mondschein" fing Nerly Stimmungen ein, man darf ruhig sagen, die Überwältigung, die die Reisenden und besonders die eben erst übers Wasser angekommenen empfunden haben. Überall funkelte es, die Mischung aus Kanälen, Brücken und alten Gemäuern – gerade im Aufeinandertreffen von Orient und Okzident – hatte etwas Magisches, auch dunkel Geheimnisvolles.

Mondschein über der Lagune – Nerly weiß, was die Fremden fasziniert

Zudem waren die Kaffeehäuser um die Piazzetta und vornehmlich das Florian die ganze Nacht hindurch gut besucht. In der "Augsburger Allgemeinen Zeitung" stand 1846, die Lagunenstadt zeige sich zu dieser Tageszeit von ihrer besten Seite: "wenn die Menge auf St. Marco herumwogt, die Gondeln Lichter haben und alles beleuchtet ist bis zum Rialto".

Friedrich Nerly nach 1873 mit Skizzenbuch in einer Gondel fotografiert vom Atelier Antonio Sorgato.
Friedrich Nerly nach 1873 mit Skizzenbuch in einer Gondel fotografiert vom Atelier Antonio Sorgato. © Angermuseum Erfurt, Grafische Sammlung

1846, also im selben Jahr, komponiert Frédéric Chopin sein letztes von 21 Nocturnes. Zehn Jahre zuvor schrieb der Dichter Joseph von Eichendorff die berühmte "Mondnacht". Caspar David Friedrich hat in den 1820er Jahren seine tief berührenden Mondbetrachtungen gemalt – in der Natur, fern der Stadt, doch das ist nicht entscheidend. Der 1807 im fernen Erfurt als Christian Friedrich Nehrlich geborene Künstler wusste ganz einfach, was seine Landsleute, aber auch Franzosen oder Engländer ansprach.

Der preußische König ist hin und weg – und wird Stammkunde

Die frühen Nachtbilder sind der Auftakt einer Erfolgsgeschichte, und selbst die höchsten Kreise interessieren sich für Nerlys Kunst. "Wir alle waren trunken von dem herrlichen Anblick", schreibt der Kronprinz und spätere preußische König Friedrich Wilhelm IV. 1828 nach Hause. Mit seiner ausgeprägten "Italomania" kann es deshalb kaum ausbleiben, dass er den Maler im Atelier aufsucht – und Stammkunde wird.

Nerly beherrscht sämtliche Spielarten der Landschaftsmalerei, doch bei allem Können ist dieser Künstler überhaupt ein Phänomen. Immer gelingt es ihm, sich in neuen Situationen zurechtzufinden. Das beginnt schon nach dem frühen Tod des Vaters, da kommt er mit sieben Jahren in die Obhut des Onkels nach Hamburg in ein musisches Milieu. Das ist auch wieder sein Glück, denn man erkennt das enorme Talent des kleinen Fritz, und bereits 16-jährig wird er Schüler des malenden Rundumgelehrten Carl Friedrich von Rumohr.

Nerly hält das Licht des Südens fest

Dessen Credo eines "immerwährenden Studiums der realen Natur" erspart dem Jungen das akademische Korsett, stattdessen nimmt Rumohr ihn mit auf ausgedehnte Malreisen, vor allem nach Italien. Auch in der Community der Deutschrömer fasst Nehrlich schnell Fuß, nennt sich bald Federigo Nerly und durchstreift die unter Künstlern angesagten Orte Olevano und Subiaco – die Ölstudie "Kloster im Gebirge bei Subiaco" von etwa 1830 ist ein Höhepunkt dieser Phase –, er geht nach Neapel, Capri, Sorrent und hält das faszinierende Licht des Südens fest.

Die Romantik des Nordens taucht am Canal wieder auf

Die Konkurrenz unter den meist bettelarmen Malern ist beträchtlich und der Wechsel ins damals habsburgische Oberitalien nach Venedig wieder eine glückliche Entscheidung. 1835, mit Ende 20, beginnt er erneut, seine Umgebung minuziös in Skizzenbücher zu übertragen: die vor sich hin bröckelnden alten Palazzi, zerbrochene Butzenscheiben, Ornamente und Spitzbögen – 15 Jahre bevor John Ruskin sie in seinen "Stones of Venice" dokumentieren wird. Und aus diesem Fundus kann sich Nerly endlos bedienen.

Das "Kloster im Gebirge bei Subiaco" (um 1833/35) gehört zu den Höhepunkten aus Nerlys Zeit in Rom.
Das "Kloster im Gebirge bei Subiaco" (um 1833/35) gehört zu den Höhepunkten aus Nerlys Zeit in Rom. © Dirk Urban/Angermuseum Erfurt

Über die Erfindung der nächtlichen Piazzetta schleust er die Romantik des Nordens nonchalant in die Lagune ein. Mit dem gotischen Formenapparat verträgt sich das gar nicht schlecht, man denke an Caspar David Friedrichs Ruinen und Kathedralen. Der Dreh ist freilich kein existenzieller, vielmehr ein erzählerisch emotionaler, kulturtopografischer, der bei den Betrachtern angenehme Erinnerungen hervorruft und Sehnsüchte weckt.

Nerly zeichnet in der Gondel – auch den Palazzo von Kaiserin Sisi

Nerly landet damit 1838 einen Coup, 36 Mal malt er die Piazzetta, wird der "celebre pittore a Venezia", und wie sollte es anders ein: Mit seinem Charme gewinnt er eine umwerfend schöne, gebildete Venezianerin aus reichem Hause. Damit steht einer repräsentativen Lebensführung nichts mehr im Wege – Zar Alexander und auch der bayerische König Ludwig I. kreuzen im Atelier auf. Doch das hindert Nerly keineswegs, intensiv "en plein air", das heißt, im Freien, weiterzuarbeiten. Er zeichnet, was er sieht, oft von der schwankenden Gondel aus, wie den 1856 entstandenen "Blick auf den Palazzo Reale", wo Kaiserin Sisi residiert.

Es gibt allerdings Zeitgemäßes, das Nerly nicht auf die Leinwand kommt. Gaslicht zum Beispiel und Dampfschiffe. Wer will das auf romantisierenden Gemälden haben? Das ist wie mit den Autos vor historischen Gebäuden. Also lotst der geschäftstüchtige Mann die im Caffè Florian aufgegabelte Kundschaft wie ein Guide durch das Labyrinth der Gassen, hin zu den schönsten Orten, die dann auch den Wunsch nach Abbildung befördern.

Idylle ohne Dampfschiffe: In den 1840er Jahren ist Friedrich Nerlys Gemälde "Abendstimmung in Venedig mit Santa Maria della Salute" entstanden. Und man will heute noch in diese Farbfluten eintauchen.
Idylle ohne Dampfschiffe: In den 1840er Jahren ist Friedrich Nerlys Gemälde "Abendstimmung in Venedig mit Santa Maria della Salute" entstanden. Und man will heute noch in diese Farbfluten eintauchen. © Dirk Urban/Angermuseum Erfurt

Die Bilder gehen in alle Welt, keines bleibt in Venedig

Im Zuge der Lossagung Venedigs von Österreich 1866 gehen schließlich die Aufträge zurück, der Impressionismus zieht seine Kreise und die Fotografie wird zum neuen Medium des Andenkenhandels. Doch die Lagunenstadt bleibt Nerlys Lebensmittelpunkt bis zum Tod 1878. Sein Grabmal auf der Friedhofsinsel San Michele existiert heute noch, dafür kein einziges Werk, denn Nerlys Sohn hat den Nachlass der Stadt Erfurt vermacht. Er bildet den Grundstein für das Angermuseum, das derzeit eine umfassende Ausstellung zeigt – nach Jahren intensiver Forschung kuratiert von der Münchner Landschaftsexpertin Claudia Denk und dem Konservator Thomas von Taschitzki.

Nerly wird man dort weiterhin ausgiebig (wieder)entdecken können, ein Besuch lohnt sich auch nach der Schau. Schon, um ein nicht überflutetes Venedig zu erleben. In der Realität gelingt das bekanntlich selten, und man muss es leider sagen: Dazu hat der fabelhafte Friedrich Nerly einiges beigetragen.


"Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt" bis 23. Februar im Angermuseum Erfurt (längere Öffnungszeiten); Katalog (Deutscher Kunstverlag, 560 Seiten, 62 Euro)

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.