Max Beckmann in der Pinakothek der Moderne: Wanderer zwischen den Welten
Die Wahrheit liegt oft im Beiläufigen. Das können schnell hingeworfene Notizen sein, der Gruß auf einer Postkarte oder ein verwuschelter Schnappschuss, den man noch nicht einmal ins Familienalbum kleben möchte. Solches wird aussortiert, erst recht bei einem, der das Weltmännische so sehr herausgekehrt hat wie Max Beckmann.
Beckmann: Kein Klein-klein
Klein-klein war nichts für diesen Künstler, das offenbaren zuerst seine Gemälde, die schon aus der Ferne donnern. Keineswegs grob, aber doch kraftvoll, farbstark, klar konturiert – bei aller kryptisch-komplizierten Symbolik. Hinzu kommt dieses 20er-Jahre-Fabrikantengehabe in Anzug und Schlips, mit dicker Zigarre, der dauernd vergrämte Blick, auch das Massive, Statuarische. Doch dann sieht man dieses Mannsbild die albernsten Grimassen schneiden oder beim Tennisspielen unvermittelt ein Rad schlagen. Mit der Wucht seines 100-Kilo-Körpers.
Beckmann konnte auch anders, das zeigen die privaten Filme und noch vieles mehr an Materialien. In der Pinakothek der Moderne lassen sie eine an sich schon beachtliche Ausstellung zu einer superben Mischung aus "Roadshow" und Augenöffner werden. Und das bei einem erstaunlicherweise kaum bearbeiteten Lebensthema des Malers: dem Reisen und den unzähligen Ortswechseln. In einem fort war dieser Mann unterwegs, rastlos, suchend, aber auch - das beweisen die Filme - ständig in Bewegung.
Dieser Umstand fällt heute besonders ins Auge, die Gegenwart ist von Migration geprägt, der politisch bedingten und genauso der ökonomisch-beruflichen. Den Tourismus, der sich in postpandemischen Zeiten trotz Klimakrise wieder kräftig im Aufwind befindet, darf man ruhig mit dazunehmen. Und tatsächlich hat Beckmann alle Varianten und gerade die extremen durchlebt: vom genussvollen Reisen in die angesagten Feriendestinationen bis zur Flucht ins Amsterdamer Exil und der späten Überfahrt in die Vereinigten Staaten.
"Gestern Abend Bols und Austern und eine heiße Nacht"
Unter diesen Gesichtspunkten erhält das Œuvre eine andere, stellenweise neue und ungemein aktuelle Tonalität. Die Ausgangslage an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ist für diesen Ausflug freilich ideal: Mit 37 Werken hegt man den größten Gemäldebestand in Europa - neben dem Konzept hat das doppelt so viele Leihgaben beschert. Und schließlich sind 2015 die Familiennachlässe als Schenkung ans Haus gekommen. Also Fotoalben von Max und seiner zweiten Frau Mathilde alias "Quappi", Briefe, Skizzenbücher, Filme und Berge von Ansichtskarten. Das meiste unveröffentlicht, insofern nimmt das Archiv eine Schlüsselrolle ein, obgleich Beckmann wie nur wenige Künstler des 20. Jahrhunderts erforscht ist.
Damit relativieren sich etwa die Tagebücher, denn Quappi hat "Ungünstiges" gestrichen. Das ist nur zu menschlich, Beckmanns Bar-Exzesse und Nachtklub-Eskapaden dürften der verliebten jungen Ehefrau sowieso schon mächtig zugesetzt haben. Die inoffiziellen Foto- und Filmaufnahmen dokumentieren ja, wie sehr sich die beiden zugetan waren. Doch ihr "Tiger" musste raus aus dem Gehege. Dann flanierte er durch Bahnhöfe, Nachtcafés und all die Orte der Heimatlosen und des Übergangs in andere Welten.
Dabei zog es Beckmann vor allem auf die mondäne Seite. Man liest das in Notizen wie "Gestern Abend Bols und Austern und eine heiße Nacht", und das vermitteln Bilder wie "Tanz in Baden-Baden" (1923) oder vom anrüchigen Hotel "Claridge" (1930) in Paris.
"Mit Melonenhut und seidenem Schal durchmißt er das irdische Jammertal", bringt es sein Freund und Sammler Stephan Lackner auf den Punkt. Das trifft es auch, wenn die Beckmanns in den Nobelabsteigen der Côte d'Azur, der Riviera oder der Nordsee ihre Tage verbringen und er aufs Meer hinaus schaut. Das ist sein Sehnsuchtsort.
Schon als Halbwüchsiger versucht er, als Kabinensteward auf einem Amazonasdampfer anzuheuern, verschlingt Bücher von Joseph Conrad und anderen Abenteurern und identifiziert sich mit Seefahrern wie Odysseus. Im späten Gemälde "Cabins" leiht er dem Matrosen im Zentrum die eigenen Gesichtszüge. Durch das enge Nebeneinander von Fenster- und Kajüteneinblicken auf einem Dampfschiff entsteht ein äußerst verdichtetes Panoptikum menschlicher Leidenschaften.
Beckmann holt sich Inspiration beim Film
Beckmann hat sich dieses Aneinanderreihen von Simultanbühnen beim Film abgeschaut. Das heißt, in den UFA-Studios, wo er angeblich Marlene Dietrich beim Drehen zusehen wollte. Daraus wurde nichts, doch beim Gang durch die Ateliers sah er die Kulissen einer Winterlandschaft. Deren Tannen tauchen im Gemälde "Filmtheater" neben Requisiten und einer Kamera wieder auf. Beckmann war fasziniert vom Verketten verschiedener Realitätsebenen, das wurde zum bestimmenden Stilmittel, gerade auch der Triptychen.
Und gleich mit "Departure", dem 1932 begonnenen ersten Dreiteiler, der der Ausstellung den Titel gab, verschränken sich Mythos und Wirklichkeit. Im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist das eine grauenhafte Wirklichkeit voll sadistischer Folterszenarien. Die Entlassung aus der Professur an der Frankfurter Städelschule hat Beckmanns Befürchtungen bestätigt, doch mit der gesellschaftlichen Isolation und dem Abzug seiner als "entartet" verfemten Werke aus den Museen sollte es 1937 noch schlimmer kommen - bis er es nicht mehr aushält und wie im Triptychon "abfährt". Gleichwohl nicht wie die Sagengestalten der Mitteltafel übers Meer, sondern im Auto nach Amsterdam.

Das Paar ist gut vernetzt, Quappi sorgt für ein kommodes Leben, und Beckmann kann sich in den Niederlanden ganz seiner Kunst widmen. Mit dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 nehmen die Freizügigkeiten aber ein jähes Ende. Der Maler sitzt fest in seinem Atelier – und geht auf imaginäre Reisen, die zu einer Reihe fantastischer Werke führen.
Beckmann schippert in die Freiheit - und ärgert sich über Thomas Mann
Aus der Erinnerung und mithilfe seiner Postkarten entstehen berauschende Küsten und Strände wie die "Promenade des Anglais" in Nizza. In die fulminanten Landschaften frisst sich aber genauso die unterschwellige Verzweiflung wie im komplexen "Schwimmbad Cap Martin" (1944), das einem Gefängnis gleicht.
Beckmann sehnt sich nach Freiheit, und doch gelingt erst im September 1947, nach "entsetzlichen Paß- und Zollgeschichten", die Überfahrt von Rotterdam nach New York. Nicht ganz stilgerecht in einer Mehrbettkabine, während Thomas und Katia Mann auf just demselben Dampfer geräumig separat logieren.
Man verbringt einige Zeit miteinander, aus den beiden Männern werden allerdings keine Freunde mehr. Zu überheblich findet der "sehr ordentliche Künstler" (O-Ton Mann) den Schriftsteller, auf den er zunehmend gereizt reagiert. Leicht möglich, dass Beckmann sich deshalb schon vor dem Mittagessen fünf Cognacs einverleibt.
Erfreuliches in Amerika
Doch auf den 63-Jährigen wartet in Amerika Erfreulicheres. Er wird in Ausstellungen gefeiert, und sein Siegeszug quer durch die Staaten beschert ihm unfassbare neue Eindrücke: ob in Colorado mit den Rocky Mountains, in Kalifornien oder in New York, wo er sich mit Quappi niederlässt.
Beckmann arbeitet wie ein Verrückter, das bleibt sein Elixier, und so macht er sich im Herbst 1950 an die "Argonauten", sein neuntes Triptychon. Noch einmal werden Künste und Künstler reflektiert, während sich im Mittelteil die antiken Helden Jason und Orpheus begegnen. Ein Greis in blauer Matrosenhose steigt zu den beiden hinauf - und mit dem Kommentar "endlich habe ich's geschafft" legt Beckmann am 26. Dezember den Pinsel beiseite. Am Tag darauf geht er spazieren und bricht am Central Park zusammen.
Für den ewigen Wanderer war der Tod die "letzte große Sensation" des Lebens.
"Max Beckmann. Departure", bis 12. März 2023, Di - So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr, Katalog (Hatje Cantz, 352 Seiten, 54 Euro)
- Themen:
- Pinakothek der Moderne
- Thomas Mann