Martin Parr: Bizarrer Bilderrausch

Nein, gefragt habe er die Menschen nicht, die er da Anfang der 1990er Jahre unter dem Titel "Bored Couples" (Gelangweilte Paare) fotografiert hat. Auch nicht hinterher? Nein, sagt der Brexit-geschlagene Brite. "Wir haben nicht mehr viel, aber wir haben das Recht, auf öffentlichen Plätzen zu fotografieren." Ob das in Deutschland anders sei? Großes Nicken der Fotografen im Kunstfoyer.
Martin Parr führte gestern selbst durch die Ausstellung "Souvenir. A Photographic Journey". Es ist unser Glück, dass das britische Recht so locker ist. So sehen wir also Paare in einem Moment, in dem sie aneinander vorbeischauen und mit den Gedanken offensichtlich anderswo sind. Alles nicht gestellt, versichert Parr. Nur eines: Das zeigt ihn selbst mit seiner Frau in Paris – und das Foto hat der Kellner gemacht.
Der Massentourismus: Ein unerschöpfliches Thema für Martin Parr
Viele von Parrs Fotos sehen aus wie die Aufnahmen, die man einst, als man noch mit Filmen fotografierte und Papierabzüge machte, beim Fotomann als unbrauchbar zurückgegeben hat. Wie Unfälle. Im falschen Moment abgedrückt.
Aber dieser Hoppla-Moment ist eben genau der Augenblick, auf den Martin Parr wartet. Wobei es nicht darum geht, Menschen bloßzustellen. Parr betreibt mit seiner Kamera Feldforschung. Er unternimmt soziologische Studien mit Makroobjektiv und Ringblitz. Auf diese Weise dokumentiert er Mexiko im Foto mit kitschigen Marienbildern, Armbanduhren mit Jesus-Ziffernblatt, Coca-Cola-Flaschen und bunt verzierten Speisen, über die sich Insekten hermachen.
In Schottland fotografiert er Socken und Unterwäsche, die einsam auf einer Leine in der Landschaft trocknet. Einen schmucken Teller mit Goldrand und zehn roten Johannisbeeren drauf, auf den jemand einen grünen Zettel mit der Aufschrift "Third Prize" gelegt hat. Es ging offenbar um einen Wettbewerb unter Gartenfreunden. Aber das Werk entfaltet auch allein für sich einen stillen eigenen Charme.
Den seltsamen Auswüchsen des Luxuslebens widmete Parr eine eigene Serie. Hinreißend das Bild der Zuschauerin beim Winterpolo in St. Moritz. Sie hat ein Hündchen im Arm und einen Pelz um den Hals, und man kann nicht sagen, wo das eine endet und das andere anfängt.
Parrs internationaler Durchbruch kam Mitte der 80er Jahre mit der Serie "The Last Resort", das im ehemals mondänen Badeort New Brighton entstand. Parr zeigt, wie die Arbeiterklasse Erholung in der wenig einladenden Umgebung sucht. Berühmt ist das Motiv eines Sonnenbads neben den Ketten eines alten Baggers.
Überhaupt: Erholungssuchende! Ein Thema, das für ihn niemals abgeschlossen sein werde, ist der Tourismus, sagt Parr. Eines seiner bekanntesten Bilder zeigt eine sonnensuchende Dame im belgischen Badeort Knokke Le Zoute: Braungebrannt und breitbeinig liegt sie auf einem Liegestuhl. Parr hat auch noch zwischen die Beine fotografiert. Normalerweise wäre eine solche Aufnahme schlicht ordinär. Spätestens die grotesken gelben Sonnenschutz-Augendeckel lassen den Betrachter dann aber doch lachen.
Wunderbar auch das Bild der Frau auf dem Markusplatz in Venedig mit der Kamera in der Hand, die von den allgegenwärtigen Tauben regelrecht bedeckt wird. "Small World" heißt die Serie, in der Parr den Massentourismus mit all seinen Folgen beleuchtet.
Und das soll große Fotografie sein? Kein Wunder, dass es rumorte, als Martin Parr bei Magnum, der renommiertesten Fotoagentur der Welt, aufgenommen werden wollte. Immerhin hatte Parr, 1952 in Epsom, Surrey, geboren, das Fotografenhandwerk in Manchester studiert. Frechheit siegte am Ende: 1994 wurde Parr Magnum-Vollmitglied.
Die Dokumentarfotografie-Legende Henri Cartier-Bresson, eher konservativ, war von Parrs Werk gar nicht angetan. "Henri kam zur Eröffnung meiner Ausstellung Small World 1995 in Paris und sagte, ich sei von einem anderen Planeten!", erzählt Parr in einem Interview. "Diese Bemerkung hat mir immer gut gefallen, und ich schrieb ihm zurück: Ich weiß, was du meinst, aber warum schießt du auf den Boten?"
Und so zeigt Parr die Welt einfach, wie sie ist – wenn man sie denn aus seinem Blickwinkel betrachtet. Und der ist, man sieht es immer wieder, oft ein sehr liebevoller.
Zum Beispiel bei seinen Aufnahmen, mit denen er das Typische seiner Heimat England festhält. Da zanken sich zwei Möwen um eine Portion Pommes frites, während im Hintergrund stolz der Union Jack flattert.
Philipp Seidel
Martin Parr: "Souvenir. A Photographic Journey", bis zum 28. Januar im Kunstfoyer der Versicherungskammer-Kulturstiftung, Maximilianstraße 53, täglich 9 - 19 Uhr, Eintritt frei. Kein Katalog, aber es gibt einen Satz mit zehn Foto-Postkarten (10 Euro)