Kunsthalle München: Diese Fotografien unserer Menschheit rauben einem den Atem
Der blaue Kreis ist so sympathisch. Schon von Weitem zieht er einen magisch an, und dann möchte man minutenlang dastehen und auf die Erde starren, wie es wahrscheinlich die ersten Astronauten getan haben. Doch in der Kunsthalle München ist dieses bewegte Satellitenbild nur der Auftakt zu einer bemerkenswerten, ja aufwühlenden Fotografie-Ausstellung.
Natürlich hätte man zum 40-jährigen Jubiläum eine Hochglanz- oder Wohlfühlschau organisieren können. Irgendein Thema spielen, das alle anspricht wie 2023 die höchst erfolgreichen Blumen mit 360.000 Besuchern.
Ein Jubiläum ist immer gut für eine Bilanz
Aber ein Geburtstag ist immer auch Anlass, Bilanz zu ziehen, sich über den Status quo Gedanken zu machen. Und warum nicht über unser Zusammenleben? Den Zustand der "Civilization", wie es im Titel heißt – vornehmlich in den großen Zentren, wo alles aufeinandertrifft und Gegensätze irgendwie mit- und nebeneinander funktionieren müssen. Wo es keine mönchischen Momente mehr gibt wie in Candida Höfers Aufnahme der Bibliothek im Augustinerchorherrenstift Sankt Florian bei Linz.

Über die Hälfte der mittlerweile mehr als acht Milliarden Menschen leben seit 2008 in Städten. Man rückt sich auf die Pelle, wuselt durcheinander wie in einem "Bienenstock". Frei nach Tom Wolfe ist das eine brauchbare, in der Ausstellung aufgegriffene Metapher, die durchaus ästhetische Eindrücke bescheren kann.
Der Zoom bringt Brisanz ins Spiel
Cyril Porchet hat sich eine Zeit lang auf Menschenmengen konzentriert, auf Festivals etwa, wo Köpfe zu Punkten in wilden Farbbädern schrumpfen, die aussehen wie eine Mischung aus Gerhard Richters Rakel- und Farbtafelbildern. Die geordnete Version findet man dagegen in Sportstadien, bei Paraden in Diktaturen wie Nordkorea oder auch in einer Moschee, die Ahmad Zamroni während des Freitagsgebets in Jakarta dokumentiert hat.

Entscheidend ist die Perspektive, denn im Zoom kommt Brisanz ins Spiel. Dann kann es unangenehm eng werden wie im 4,64 Quadratmeter kleinen Multifunktionszimmer von Familie Leung in Hongkong. Oben im Stockbett liegen die Kinder bei den Hausaufgaben, unten liest der Vater Zeitung, daneben verräumt die Mutter die Wäsche. Beim nächsten Stöhnen im knallvollen Bus sollte man sich diese "Interieur"-Fotografie von Benny Lam in Erinnerung rufen - oder vielleicht doch aufs Land fliehen? In ein verlassenes Dorf am äußersten Ende von Niederbayern?
Worauf es ankommt? In der Pandemie konnte man's lernen
Weniger allein ist man da auch nicht unbedingt als in der rastlos zirkulierenden Anonymität einer Business-Metropole. Auf Florian Böhms New Yorker Straßenszene stieren alle wie blöd auf die Ampel, niemand hat Augen für die anderen drumherum. Leicht möglich, dass die Psyche in manchem Slum vor Mumbai besser aufgehoben ist. Aber das sind freilich Mutmaßungen. Es fällt nur auf, dass die Menschen, die in relativem Wohlstand ihren Jobs und selbst den Vergnügungen nachgehen, nicht auffallend glücklicher oder zufriedener wirken.

Wie sehr es auf die Gemeinschaft ankommt, hätte man in der Corona-Pandemie lernen können. Eins der besonders berührenden unter den weit über 200 Exponaten zeigt die Sopranistin Laura Baldassari, die in Mailand ganz allein an ihrer Haustür steht und in den Abend hinaus singt. Man meint, Händels "Lascia ch'io pianga", so Alex Majolis Fototitel, förmlich zu hören. In der Nachbarschaft hat das 2020 bestimmt keinen kalt gelassen.
Die Gletscher schmelzen weiter, und in der Wüste Chiles wird Lithium abgebaut
Aber jetzt pfeift auch schon wieder ein anderer Wind. Ein ziemlich frostiger sogar, in dem Aufrüstung plötzlich viel Zustimmung erfährt, während die Gletscherschmelze im Schnalstal, die bereits vor Jahren den Ötzi freigelegt hat, rapide weiter voranschreitet und in der chilenischen Atacama-Wüste Grundwasser gezielt in riesige Becken gepumpt wird, um bei der Verdunstung Lithium zu gewinnen. Fürs Smartphone und fürs batteriebetriebene E-Auto. Die Farben der Salzpfannen, die Edward Burtynsky 2017 fotografiert hat, sind dafür umwerfend schön.

Raphaël Dallaportas bunte Flacons kommen da nicht ganz dran, aber diese gestalterische Raffinesse muss man auch erst mal entwickeln: Apfelgrün und kirschrot leuchten sie, gerne golden. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlichen Accessoires als Tretminen – aus den USA, Russland, Iran, Südafrika, und auch ein deutscher "Senftopf" aus dem Zweiten Weltkrieg ist dabei.
Wartet in der Fifa-Zentrale ein Pool voller Piranhas?
Was gut ausschaut, kann tatsächlich fies sein, da sind Luca Zaniers kühl-elegante "Korridore der Macht" geradezu harmlos. Na ja, fast. Man möchte nicht unbedingt im dritten von fünf unterirdischen Stockwerken der von Sepp Blatter in Auftrag gegebenen Zürcher Fifa-Zentrale verhandeln. Wer weiß, welcher Bond-mäßige Piranha-Pool sich unter der blauen Marmorplatte im Saal auftut?

Das ist nicht lustig, zwischendurch gibt es aber saukomische, auch bizarre Aspekte in dieser unbedingt sehenswerten Ausstellung, die sich nicht bequem auf ein paar große Namen verlässt. Das Kuratorenteam um William Ewing und Stefan Kirchberger setzt auf Inhalte und liefert mit rund 100 Positionen unendlich Stoff zum Grübeln. Von der Selbstoptimierung über die Migration von Menschenmassen bis zum Wahnsinn des Klimawandels.
Kapitulieren ist keine Option
Manches möchte einen verzweifeln lassen, vor allem wenn sich die Zivilisation von ihrer gar nicht zivilisierten Seite zeigt. Und in den 12 000 Jahren, die wir jetzt schon üben, könnte das Ergebnis deutlich besser ausfallen. Doch Kapitulieren ist keine Option.
Wer mit attosekundenschnellen Lichtblitzen die Bewegung von Elektronen in Atomen "fotografiert", schafft noch mehr. Ein Milliardstel einer milliardstel Sekunde versucht sich keiner, ernsthaft vorzustellen, aber durch die Attosekunden-Technologie könnte es eine lichtgesteuerte Elektronik geben, die ungefähr 100.000 Mal schneller wäre als die heutige Elektronik.

Die kleine, sehr attraktive Aufnahme des LMU-Physikers Matthias Kling sieht im Inneren aus wie ein schmaler rot-gelb-grün-türkiser Rohrschach-Test. Umrandet wird das von einem tiefen Blau, das an den Planeten Erde erinnert.
Ist das ein Signal? Oder eine zeitgemäße Kugel für den Salvator?
"Civilization: Wie wir heute leben", bis 24. August in der Kunsthalle München, Theatinerstraße 8, täglich von 10 bis 20 Uhr, Magazin 16 Euro
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