Kunstausflug nach Kochel: Die berührende Ausstellung "Franz Marc. Das Reh fühlt"

Kochel - Sind Rehe die besseren Menschen? Franz Marc hätte die Frage vermutlich mit Ja beantwortet. Natürlich gab es da die Pferde, die er kraftvoll und mit den typisch runden Hintern in die Landschaft gesetzt hat, aber die Rehe waren für ihn etwas Besonderes, ja Kostbares.
Die groß gezogenen Fotografien im Franz-Marc-Museum zeigen den Künstler beim Füttern. Mit seiner Frau Maria hielt er in Sindelsdorf zwei zahme Rehe, die auf die Namen Hanni und Schlick hörten. Der enge Freund und Kollege Wassily Kandinsky meinte, das Paar würde die Tiere wie eigene Kinder lieben – die beide freilich nie hatten.
Ausstellung "Franz Marc. Das Reh fühlt" in Kochel: Anmut und Grazie
Für Marc waren es nicht nur die Anmut und das Grazile, die ihn gerade als Maler anzogen, ihn faszinierten genauso die Scheu und die schnelle Flucht ins Dickicht, auch die Empfindsamkeit, die man den Rehen zuschreibt.
Tatsächlich hatte er um 1907/08 noch ein sich zärtlich berührendes Hirschpaar lithografiert und ein Exlibris mit einem fein stilisierten Hirsch entworfen. Das war seinerzeit der Klassiker, der nicht nur in alpennahen Regionen in den Stuben hing. Oder womöglich noch überm Ehebett als Symbol der Stärke und der Fruchtbarkeit.
Renée Sintenis' Rehlein gingen weg wie warme Semmeln
Doch neben den Pferden wurden es immer mehr Rehe in seinem Werk, es macht also durchaus Sinn, dieser Vorliebe eine eigene Ausstellung zu widmen, mittlerweile realisiert unter der neuen Direktorin Jessica Keilholz-Busch. Zumal es schöne Verbindungen zu anderen Künstlern gibt.
Sigmar Polke etwa malt 1968 ein schematisiertes Reh, das auf einer grauen Wolldecke liegt und ganz an die gerundeten Formen Marcs erinnert. Man könnte an Vertreibung und Flucht denken, Polkes Familie war aus Schlesien geflohen.

Auch Renée Sintenis passt in eine solche Schau. Die Berliner Bildhauerin begann in den 1910er-Jahren mit kleinformatigen weiblichen Akten und ist durch Tierdarstellungen populär geworden.
Ihre Bären grüßen an verschiedenen Berliner Autobahnen und auch in München an der A9 nördlich der Autobahneinfahrt München-Freimann. Dabei interessierte sich Sintenis weniger für das Individuelle als für eine durchaus einfühlsame Typisierung.
In der Galerie von Alfred Flechtheim gingen die kleinen Bronzen weg wie warme Semmeln, und ihre Rehe scheinen Walt Disneys Bambi fast vorwegzunehmen. Gerade ihre undatierte Zeichnung mit zwei Kitzen wirkt wie eine Vorlage.
Wobei Felix Saltens Bambi-Roman 1922 erschien, der Disney-Film folgte 1928. In dieser Zeit war auch Sintenis zugange, und sie ist näher an der Moderne, als es ihre scheinbar naiven possierlichen Tierchen vorgeben.
Bei Joseph Beuys sind es schließlich Hirsche, allerdings ist er bewusst von den üblichen Darstellungen abgewichen. Durch das Nazi-Kunstdiktat und all die röhrenden Sechs- oder Achtender war das Motiv ja auch ruiniert.
Der Sammler Lothar Schirmer, der vier Beuys-Arbeiten nach Kochel gegeben hat, erzählt gerne, wie entsetzt er in den 60er Jahren war, dass da ein ernsthafter Künstler nach dem Krieg wieder mit Hirschen daherkam.

Aber es waren eben andere Hirsche, verletzliche, sogar geschundene, und was das Verhältnis zu den Tieren an sich betrifft, gibt es sichtbare Parallelen zu Marc. Das hat dem Museum vor über zehn Jahren eine Ausstellung beschert, die im Gedächtnis geblieben ist. Beide, Marc wie Beuys, verbindet ein Naturbegriff, der auf die Romantik zurückgeht.
Auch das Spirituelle schwingt mit und ein Geborgensein im Kosmos, in dem der Mensch vor allem als Störfaktor umherirrt und fuhrwerkt wie ein Berserker.
Marcs "Rote Rehe II" von 1912 sind so sehr in die Landschaft einbeschrieben, dass sie – grün koloriert – gar nicht auffallen würden. Ihre Körperform ist dem Verlauf der Hügel nachempfunden, und wären die Rehe weiß, könnten sie selbst die Wolken im Bild erweitern. Marc notiert zu dieser Zeit:

"Hat es irgendwelchen vernünftigen oder gar künstlerischen Sinn, das Reh zu malen, wie es unserer Netzhaut erscheint oder in kubistischer Form, weil wir die Welt kubistisch fühlen? Wer sagt mir, daß das Reh die Welt kubistisch fühlt; es fühlt sie als Reh, die Landschaft muß also Reh sein."
Am Ende ist es ein "Getötetes Reh", eingerollt im Schmerz und mit geöffnetem Mund. 1913 hat Marc dieses eindringliche Aquarell geschaffen. Ahnungsvoll wie so manches Werk, das in den Monaten vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ist.
Man braucht den Maler noch nicht einmal zum Tierschützer im modernen Sinne zu erklären und auch nicht zum frühen Ökologen. Respekt vor der Natur oder vor der Schöpfung hat und hatte immer auch mit Verantwortung zu tun. Ob angelesen oder ganz instinktiv im Umgang erfahren.
"Franz Marc. Das Reh fühlt", bis 6. Oktober im Franz Marc Museum, Franz Marc Park 8-10, Kochel, Di bis So 10 bis 18 Uhr; Katalogheft (48 Seiten, 15 Euro)