Kulturausflug nach Polling: Von Dan Flavin zur Kunstwandelhalle Stoa169

Polling bei Weilheim: Ein Kunstausflug zu Dan Flavin im Fischerbau, zur Stoa169 an der Ammer – und ein Spaziergang auf Thomas Manns Spuren.
von  Adrian Prechtel
Im 2003 restaurierten Märzenbierstadl von Johann Michael Fischer (1692 - 1766): Dan Flavin "untitled 1970" - blue and red fluorescent light.
Im 2003 restaurierten Märzenbierstadl von Johann Michael Fischer (1692 - 1766): Dan Flavin "untitled 1970" - blue and red fluorescent light. © Artist Rights Society of New York / Estate of Dan Flavin / Michael Jarnach

Manche haben es im Physikunterricht beim Thema Optik erlebt: Farbenspiele. Wenn man Kontrastfarben nebeneinanderstellt, tritt eine optische Täuschung auf, es entsteht eine Art Flirren. Und wie beim Filmen ein "Weißabgleich" gemacht wird, reagiert das Gehirn: Es versucht die "wahren" Farbtöne zu treffen und nimmt als Vergleichsgröße das weiße Tageslicht.

Was ist das Gegenteil von Magenta? 

Wenn man in Polling den Fischerbau vom Wirtsgarten des Klosterwirts her betritt, ist man in einem fast dreihundert Jahre alten Raum: einem Bierkeller, der paradoxerweise oberirdisch ist. Weil der Grundwasserspiegel zu hoch war, musste sich der Spätbarock-Baumeister Johann Michael Fischer, der ansonsten vor allem für Kirchen und Klöster zuständig war, für die Bierlagerung des Pollinger Augustiner-Klosterbräus etwas anderes einfallen lassen.

Also geht man eine Rampe hoch und steht in einem fantastischen, hohen 500-Quadratmeter-Stadl mit Originalgebälk – und mittendrin eine Lichterrahmenkette: 30 Meter lang, zusammengesetzt aus über mannshohen Rechteckrahmen aus den Fassungen von roten und blauen Neonrohrstäben. Deren Zusammenspiel ergibt einen leuchtenden, magentafarbenen Effekt im Raum. Auf abgewandten Flächen erzeugt das Auge dann – irritiert vom Farbenspiel – die Gegenfarbe: Das Weiß der Wand ist hier sanft lindgrün.

Farbspiele durch unser Gehirn verursacht.
Farbspiele durch unser Gehirn verursacht. © Artist Rights Society of New York / Estate of Dan Flavin / Michael Jarnach

Michael Jarnach hat das große Werk hierher geholt. Er ist ein Enthusiast mit ruhiger Zurückhaltung. Aber er erklärt Fragenden gerne, was sie hier gerade sehen und erleben. "Ich habe in den Hunderten Male, die ich hier war, dieses Kunstwerk noch nie zweimal identisch erlebt", erzählt er. Denn die natürlichen Lichtverhältnisse, die durch die Fenster und das Scheunentor fallen, sind nie gleich – und sie bilden für unser Auge den natürlichen Farbabgleich.

Lindgrün auf weißen Wänden

"Dan Flavin malt nicht auf Leinwand, sondern mit Licht im Raum und unserer Wahrnehmung": Das hatte Jarnach fasziniert, so dass er Mitte der 90er-Jahre Pläne seines Bierkühlhauses nach New York zu Dan Flavin schickte und Sommer 1996 hinterher reiste. Aber das Treffen kam nicht mehr zustande, Flavin starb kurz darauf.

20 Jahren später ergab sich eine neue Möglichkeit: In der "Königsklasse" – einer sommerlichen Ausstellungsreihe auf Herrenchiemsee – war "untitled 1970" zu sehen. Jarnach wollte das Werk zeigen, der Kurator Flavins und Leiter der Foundation kam aus New York nach Polling und ordnete an, dass für den hier vorhandenen, riesigen Raum die Elementezahl verdoppelt werden müsse – auf 24. Die Teile schickte er aus New York, leitete danach den Aufbau und zertifizierte alles als "echten" Flavin.

Was, wenn die Neonröhre verglüht?

"Denn das ist ja ein Merkmal, dass Flavin seine Kunstwerke aus Alltagsgegenständen zusammensetzte. Aber diesen materiellen Minimalismus hat Flavin selbst – in der Hoffnung auf seine Wirkung – scherzhaft als ,Maximalismus' verstanden", meint Jarnach. Jetzt steht die große Leuchtrahmenreihe leicht diagonal im Raum. Durch- oder hinterschreiten darf man sie nicht, "um sie nicht zu entzaubern", wie Jarnach erklärt, denn die meisten Menschen, wollten immer hinter etwas schauen, wie bei einem Zaubertrick, anstatt einfach zu staunen und wirken zu lassen.

Die Haltbarkeit einer Neonröhre und die Symbolik der Säule

Ganz profan aber gibt es ein Problem, wenn eine der Neonröhren erlöschen würde. Dieses Fabrikat und Format von 1970 wird nicht mehr hergestellt. Heute würden also sehr teure Sonderanfertigungen erforderlich werden. Jarnach lacht: "Das wird eine wunderbare Kunsthistorikerdiskussion über Flavin auslösen, ob man das gegen den Willen des Künstlers machen darf, der auf ,handelsübliche' Materialien und Bauteilen bestand" – als ein Aspekt seiner sogenannten "Arte Povera".

Aber die Haltbarkeit einer Neonröhre ist natürlich nur ein Wimpernschlag in der bald 1300-jährigen Geschichte des Klosterdorfs Polling, nur fünf Kilometer von Weilheim entfernt. Geht man zwei Kilometer weiter an die Ammer, trifft man auf eine zweite Kunstattraktion Pollings.

Das Einmaleins hilft hier zum Verständnis weiter: "Stoa169" heißt das Freilicht-Kunsttheater auf einer riesigen Waldlichtung in einer Flussbiegung, eine Halle der Kunst mitten in der Natur, getragen von individuell gestalteten Säulen, geschaffen von international renommierten Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt: Die Verwirklichung dieser Idee verfolgte der Künstler und Stifter Bernd Zimmer seit mehr als 35 Jahren.

Die Stoa169 auf einer Ammerwiese nur eine gute Viertelstunde zu Fuß von Polling.
Die Stoa169 auf einer Ammerwiese nur eine gute Viertelstunde zu Fuß von Polling. © Erwin Rittenschober

Inspiriert von Säulentempeln in Südindien und philosophisch angeregt von den Säulenwandelhallen der Antike, wo diskutiert und Politik gemacht wurde. Und so eine Stoa in Athen gab auch den kosmopolitischen, pazifistischen Stoikern ihren Namen, was Zimmer ebenfalls gefiel – als Ort, wo Kunst zum Denken über Mensch, Gesellschaft und Natur anregt.

Rebecca Horn, Erwin Wurm, Joseph Gallus Rittenberg

Jetzt steht sie da, fast surreal, aber erhaben schön auf die Wiese gestellt – mit Säule von Künstlern wie Rebecca Horn, Joseph Gallus Rittenberg oder Erwin Wurm. 169 ist eine Quadratzahl (13 mal 13), auch wenn es bisher nur elf mal elf Säulen geworden sind, fast alle aber bereits belegt und alles erweiterungsfähig wie erst jüngst um zwei Säulen. Einer tanzt natürlich aus der Reihe: Der Münchner Flatz hat versetzt, um das Wachsen zu ermöglichen, einen Baum gepflanzt, der jetzt durch eine der Quadratöffnungen des Flachdaches ragt.

Die frei betretbare Säulenhalle ist empfindlich. Aber es ist die Mischung aus Nahbarkeit und Erhabenheit, die Vandalismus bisher verhindert hat – nur bei einer Säule wurde die zweigeschlechtliche "Heilige Martina" quasi "entmannt", so schrieb vor gut zwei Jahren die Polizei: "Das männliche Geschlechtsteil wurde fein säuberlich zu Füßen der Säule abgelegt."

Sichtbare Vielfalt im Inneren und viele Assoziationsmöglichkeiten.
Sichtbare Vielfalt im Inneren und viele Assoziationsmöglichkeiten. © Erwin Rittenschober


Wetter setzt der Halle mehr zu. Und so kann man nach einem Regensturm auch einmal einen älteren Herren an der "Colourmarks Column" vom Iraner Rozbeh Asmani die Farbflächen wieder fixieren sehen - es ist Bernd Zimmer selbst: "Die Hallen, die ich vor 36 Jahren in Südindien in den Tempelanlagen besuchte, dienen zur Meditation, zur Suche nach Ruhe, aber auch zum Schutz vor Regen und Sonne. Sie wurden aus 100 oder auch 1000 Säulen errichtet und dienten in Kriegszeiten als Zufluchtsort. Man ist umgeben von den Stelen und Säulen, die von Götterfamilien, Liebe, Kampf und Krieg oder Eros erzählen."

Dann erzählt Zimmer, wie sehr ihn der Krieg in Europa, der Ukrainekrieg, umtreibt. "In Zeiten von Kriegen und Hungersnöten, von Vertriebenen und Fliehenden ist es noch wichtiger geworden, ein internationales Zeichen für Solidarität und Frieden zu setzen. Die Stoa169 ist eine Halle, geschaffen von Künstlerinnen und Künstlern aller Kontinente und wird so zum Zeichen von Grenzenlosigkeit, Koexistenz und der Achtung der Freiheit des anderen."

Bildungsbürgerweg zu Thomas Mann

Geht man den zwanzigminütigen Feld-, Wald- und Wiesenweg zurück ins Dorf kommt man zum Klosterwirt in seiner schönen Mischung aus Tradition und behutsam eingekehrter Moderne. Oder man begibt sich noch bildungsbürgerlich auf den einstündigen, mit Erklärungstafeln markierten Thomas-Mann-Spaziergang, weil hier in Polling Teile des Romans "Dr. Faustus" spielen. Hier wohnte auch zeitweise Thomas Manns Mutter und seine Schwester Carla, die sich hier das Leben nahm.

Und im barocken Bibliothekssaal des ehemaligen Klosters, der selbst aussieht wie eine Kirche, finden häufig Konzerte statt.

Von München mit dem Zug nach Weilheim in 50 Minuten. Der Fischerbau mit Dan Flavin ist bis September, Sa und So, 14 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung (0881 9277 9946) geöffnet bei freiem Eintritt. Auch die Stoa ist kostenlos betretbar (kleiner Katalog: 7 Euro)

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