Kleine Jungs im Sandkasten

Der Surrealismus lebt in der Villa Stuck: Das Ausstellungsprojekt „Der Stachel des Skorpions“ schreibt in sechs Episoden Luis Bunuels „L’Âge d’or“ fort, ohne wirklich zu stechen
von  Roberta De Righi

Der Surrealismus lebt in der Villa Stuck: Das Ausstellungsprojekt „Der Stachel des Skorpions“ schreibt in sechs Episoden Luis Buñuels „L’Âge d’or“ fort, ohne wirklich zu stechen

"Cadavre exquis – vorzüglicher Leichnam“ heißt ein Malspiel, bei dem jeder Mitspieler ein Körperfragment zeichnet, das Blatt faltet und weitergibt. Der Nächste setzt das Bild fort, ohne es zu kennen, am Ende ergeben sich bizarre Gestalten – eine beliebte Methode der Surrealisten.

Und so funktioniert auch das filmische Ausstellungsprojekt „Der Stachel des Skorpions“ in der Villa Stuck. Marc Weis und Martin de Mattia vom Münchner Künstlerduo M + M waren zu Beginn ihres Studiums von Luis Buñuels Avantgarde-Statement „L’Age d'Or – Das Goldene Zeitalter“ derart fasziniert, dass sie seither von einer Hommage träumten. Dafür wird nun die Stuck-Villa zum Kunst-Kino mit sechs Beiträgen, allesamt Auftragsarbeiten, eine Kooperation mit der Darmstädter Mathildenhöhe und Bundeskulturstiftung.

Frei nach Buñuel

Struktur und Inhalt gibt Buñuels Film vor, der aus sechs Episoden besteht (wie die Glieder des Skorpionschwanzes). Den Auftakt macht Tobias Zielony, der Teilnehmerinnen eines Workshops in Palästina mit Schwarzlicht dabei filmte, wie sie Skorpione (tot oder betäubt) animieren und quasi mit dem Tod spielen – eine irrlichternde Dokumentation. Es folgt der Clip der „Chicks on Speed“: Die Farben sind Regenbogen-froh bis grell, befreite Frauen recken ihre Extremitäten in den Himmel über der Wüste, ein sprechendes Känguru referiert gesellschaftskritische Betrachtungen.

M + M selbst drehten mit Birgit Minichmayr und Christoph Luser ein kleines Schwarzweiß-Drama vor der Infrarotkamera, dementsprechend wächsern sehen die Darsteller aus. Ein Liebespaar wird abgeführt, ein paar Beschimpfungen, ein paar Anrufungen, und wieder ist Nacht.  Bei Keren Cytter führt die Kleinstadt-Langeweile in einer Bar zur Eskalation mit zwei Toten. Julian Rosefeldt schickt einen tumben Tor durch Sodom und Gomorrha, eine kaputte Kulissenstadt, die an Berlin erinnert. In einem Nachtclub beobachtet Rosefeldts Protagonist mit Faszination und Abscheu die sexuellen Ausschweifungen – verschärftes „Cabaret“ im Berghain. Und eine perfekt choreografierte 20er-Jahre-Groteske in Schwarzweiß.

Und auch John Bock lieferte einen Film, hat ihn aber doch eher als Installation aufgefasst: Sein auf dem Totenbett noch geiler, armer, alter Marquis de Sade ist ein Maskenbildner-Artefakt aus Eiter, Krätze und Sperma.

Was ist bürgerliche Moral heute?

Die anale Phase kehrt in der Kunst halt regelmäßig, ob bei Barney oder Bock, wieder mit der obsessiven Inszenierung von Körpersäften. Ein bisschen erinnert das an kleine Jungs, die demonstrativ in den Sandkasten pinkeln. Oder ist es doch immerwährender Ausdruck von Rebellion?

„Die bürgerliche Moral ist für mich Unmoral, die man bekämpfen muss, sie gründet sich auf äußerst ungerechten sozialen Institutionen wie Religion, Vaterland, Familie, Kultur“, erklärte Buñuel. „Das Goldene Zeitalter" entstand 1929/30, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Nachdem Rechtsextremisten bei einer Pariser Aufführung wüteten, wurde der Film verboten, bis 1981 war er auf dem Index. Der Blick ins (Alb-)Traumhafte, Unbewusste – vor dem Hintergrund der Psychoanalyse – war damals revolutionär.

Mehr als acht Dekaden später muss man fragen: Was bedeutet „bürgerliche Moral“ heute und welche – bekämpfenswerten? – Institutionen prägen unsere Werte? Man kann viele, auch konträre Antworten finden. Vielleicht ist das der Grund, warum „Der Stachel des Skorpions“ nicht recht sticht: Der Adressat bleibt unklar, die Attacke auf den guten Geschmack gerät zur Attitüde. Es krankt an zu viel Konzept und zu großer Erfurcht vor dem Original. Ein interessantes Experiment, das als großes Ganzes misslungen ist.

Villa Stuck, Prinzregentenstr. 60, bis 9. 6., Di - So, 11 - 18 Uhr

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