JR in der Kunsthalle: Schaut uns in die Augen, Leute!

Die kleine Valeriia hüpft so ausgelassen, wie das eigentlich nur Kinder können, die im Moment der Freude alles um sich herum vergessen. In Wirklichkeit hat die Fünfjährige nichts zu lachen. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine musste sie aus ihrer Heimat nach Polen fliehen, Valeriias Bild wandert dagegen um die Welt. Nach Paris, Berlin, Düsseldorf und Venedig wurde es gestern auf dem Odeonsplatz ausgerollt - auf einer 45 Meter langen Plane. Deutlich sichtbar also. Auch für die russischen Kampfpiloten, die am 14. März bei Valeriias erstem großen Auftritt über Lwiw donnerten.
JR verschafft denjenigen eine Bühne, die keine Stimme haben
Solche Aktionen sind typisch für den Künstler JR: Der Franzose verschafft denjenigen eine Bühne, die keine Stimme haben, die übersehen werden und die leicht in Vergessenheit geraten, wie die fast acht Millionen Kinder der Ukraine. Oder die Frauen in den Slums von Nairobi, die mit Müh und Not ihre Familien durchbringen. Und immer wieder die Randale-Kids aus den Pariser Banlieues. JR - das steht vermutlich für Jean René - ist dort aufgewachsen und weiß, dass die "bösen Buben" einen objektiven Blick verdient haben und es in jedem noch so prekären Fall mehrere Seiten gibt.
Das mag banal klingen, aber diese Erfahrung, kombiniert mit der tiefen Lust, hinter jede bedrohliche Fassade zu blicken, haben JR letztlich zu einem der bekanntesten Foto- und Street-Art-Künstler gemacht. Und nach Stationen in New York, London und Groningen ist seine bislang größte Werkschau in der Kunsthalle München gelandet.
Was in der Öffentlichkeit ganze Dächer, Güterzüge oder Grenzzäune bedeckt, hat sich im musealen Raum natürlich in den Ausmaßen reduziert. Doch die Wirkung ist vielleicht sogar intensiver, man kommt den Bildern eben auch sehr nahe, kann das Plakative im Detail studieren und realisiert, dass das Prozedere oder das Making-of und bereits die Entscheidung für ein konkretes Projekt raffiniert ist, empathisch und zugleich fern von sozialem Kitsch, gefährlich und also auch mutig und manchmal komisch wie zum Beispiel 2006 an der Grenze zwischen Israel und Palästina.

Der heute 39-Jährige hat damals die immensen Spannungen und die ständigen Anschläge ausgeblendet und über Monate mit den Leuten auf der Straße gesprochen und sie zur Porträtsitzung gebeten. Lehrerinnen, Taxifahrer, Friseure und so fort. Das hat erstaunlich gut funktioniert, freilich auch mit der Bemerkung, dass man selbst ja offen sei für solche Aufnahmen, aber der Fotograf jenseits der Mauer gar nicht erst anzufragen brauche. "Die drüben" seien zugeknöpft, verstockt, borniert halt, die üblichen Vorurteile.
Es kam anders, wie man sieht. Geordnet nach Berufen hingen Kolleginnen und Kollegen auf beiden Seiten der Mauer nebeneinander, einträchtig, ohne es zu wissen, freundlich, Grimassen ziehend und entspannt, wie man das an diesem Hotspot der Konflikte nicht erwarten würde. Zudem haben alle einen Brief unterzeichnet, in dem sie sich für Frieden und eine Zweistaatenlösung aussprechen. So entstand die bis dato größte illegale Fotoausstellung, die am Ende auch noch in Städten wie Bethlehem, Tel Aviv, Ramallah oder Jerusalem zu sehen war.
Ob sich etwas getan hat? JR ist sich völlig im Klaren, dass Kunst nicht die Welt verändert, aber - und das wird er nicht müde zu betonen - die Sicht auf die Welt. Und noch wichtiger: die Leute ins Gespräch bringt. Man dürfe als Außenstehender nur nicht mit dem Zeigefinger kommen. Und man sollte Überraschungen parat haben. Die müssen allerdings minuziös geplant sein, dann kann ein Abrissbagger schon mal zum Zeremonienmeister mutieren. 2013 war das so im Pariser Vorort Montfermeil, wo JR im Alter von 13, 14 Jahren angefangen hatte, Graffitis zu sprayen.
Als dort zwei heruntergekommene Mietshäuser dem Erdboden gleichgemacht werden sollten, tapezierte er mit seinem Team in einer Nacht- und Nebelaktion die Konterfeis der alten Freunde aus Jugendtagen in sämtliche Räume. Und mit dem Einsatz des Baggers kamen verdrehte Augen, gerümpfte Nasen oder aufgerissene Münder im Riesenformat zum Vorschein.
Kunstwerke mit einer gefundenen Kamera
All das verwies auf die Menschen, die gerade ihre Bleibe verloren hatten, die Investoren konnten zumindest ins Grübeln kommen. Doch mit solchen Mitteln ist JR, der mit Hut und Sonnenbrille halbwegs inkognito bleiben möchte, zu einer überdimensionalen Lupe der Underdogs geworden.
Ihr Sprachrohr will er nicht sein, das war schon bei seinen ersten Arbeiten so, als er die Street-Art-Kollegen zu fotografieren begann. Übrigens mit einer Kamera, die er vor 20 Jahren in einer Metro-Station gefunden hatte. Übertriebene Mienen und Fratzen, befördert durch ein 28-mm-Objektiv, spielten in dieser Zeit schon eine Rolle und entfalteten ihre Wirkung. Die ersten großen "Porträts einer Generation" von 2004, das heißt, Close-ups von jungen Banlieue-Bewohnern, gingen auf billigen Papierplakaten durch ganz Paris, wo man mit "diesen Leuten" im Grunde nichts zu tun haben wollte.

Darunter war auch eine von JRs berühmt gewordenen Fotografien: Sein grimmig guckender schwarzer Freund Ladj Ly scheint mit einer Waffe zu zielen, die sich als Kamera entpuppt. Ly ist heute ein angesehener Filmemacher, sein Ghetto-Drama "Die Wütenden - Les misérables" war 2020 für den Oscar nominiert. Aber damals wurden mit Lys Bildnis Debatten angestachelt, besonders als JR nach den Unruhen 2005 (um Polizeikontrollen zu entgehen, versteckten sich zwei Jugendliche in einem Transformatorenhäuschen und starben durch einen Stromschlag) noch einmal durch die Banlieues zog und den alten Ängsten gerade durch die überzogenen Porträts mit Humor begegnete.
So etwas bleibt haften. Auch das gigantische Baby, das JR 2017 von Mexiko aus über den Grenzzaun in die USA lächeln lässt, vergisst man nicht mehr. Dass er bei solchen Einsätzen vor allem die Menschen zusammenbringt, ist das Entscheidende dieser Kunst. Ob zwischen zwei Staaten, in einem kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis oder auf meterlangen Wandbildern, die mittlerweile unter dem Titel "Chronicles" zu JRs Spezialitäten geworden sind.

Hunderte von Einzelporträts hat er kombiniert: Auf den "Chronicles von Clichy-Montfermeil" treffen Kapuzenboys auf Büroangestellte oder Omas, und neben dem Bürgermeister ist sicher auch der eine oder andere Drogendealer abgelichtet. Nur die Polizisten wollten nicht dabei sein. Noch nicht. Zumal der ehemalige französische Staatspräsident François Hollande JRs Coup sofort als modernes Historiengemälde bejubelt hat.
"JR: Chronicles", bis 15. Januar 2023, täglich von 10 bis 20 Uhr, Katalog (Hirmer) 29 Euro