Johannes Vermeer: Von der Kunst, die Zeit anzuhalten

Das Amouröse lag immer schon in der Luft. Denn natürlich denkt man beim Papier, das Johannes Vermeers junge Frau so intensiv im Blick hat, an einen Liebesbrief. Zumal sie mit ihren leicht geröteten Wangen nichts um sich herum wahrnimmt, weder die Obstschale noch den voluminös drapierten Teppich. Das Schriftstück scheint schon etwas abgegriffen, es dürfte also nicht das erste Mal sein, dass sie die Nachricht liest – am Fenster, wo das Licht am besten ist. Sperrangelweit steht es offen, das weist nicht nur bei Vermeer in die Ferne. Wo mag er sein, der Seemann? Kaufmann? Vielleicht sogar der Forscher?
Ganz sicher konnte man sich dennoch nie sein. Möglich war ja auch, dass das Mädchen einen Brief von Verwandten durchgeht – die Bedeutung der Briefkultur in der Frühen Neuzeit lässt sich kaum überschätzen –, dass sie ein Gedicht lernt oder einen Vertrag studiert. Gerade unter den bessergestellten Holländern des 17. Jahrhunderts hatten Frauen im europäischen Vergleich mit den höchsten Bildungsgrad, die meisten konnten lesen und schreiben. Und dass sie die Geschäfte führten, während ihre Männer irgendwo auf der Welt Gewürze, Seidenstoffe oder Tulpenzwiebeln besorgten, war völlig normal.
Mit seinen strammen Beinen hat Amor einen Auftrag ausgeführt
Auch deshalb durfte die Briefleserin mit ihrer Geschichte über die Jahrhunderte immer ein wenig im Ungewissen schweben, bei allen mehr oder weniger dezenten Hinweisen. Das ist der Reiz solcher Werke. Doch nun haben wir Gewissheit: Ein feister Amorknabe dominiert die leere graue Fläche, auf der unser Gehirn früher so feine Pirouetten drehen konnte. Wenig schmeichelhaft schiebt er den Bauch aus diesem Bild im Bild und blickt dem Betrachter auch noch frontal entgegen. Mit seinen strammen Beinen hat Amor außerdem einen Auftrag ausgeführt. Als Hüter der Tugend musste er die Larven vor ihm zertreten und damit das Sinnbild von Täuschung und falscher Liebe beseitigen. Schön und hehr ist das, aber auch sehr moralisch.
Übermalt wurde der blonde Bursche bald schon, nachdem das „Brieflesende Mädchen am Fenster“ spätestens 1659 vollendet worden war. Die entsprechenden Röntgenaufnahmen sind seit 1979 bekannt. Bis vor vier Jahren war man allerdings der Meinung, Vermeer hätte sich selbst korrigiert: um die Szenerie aufzuräumen und – modernes Wunschdenken – um unserer Fantasie Raum zu verschaffen.
Im Impressionismus wurde der Maler wieder entdeckt
Doch es war eine fremde Hand, die das Gemälde nach dem frühen Tod Vermeers 1675 zu einem Werk Rembrandts umfrisieren sollte. Der Meister aus Amsterdam lag durchgehend hoch im Kurs, mit seinen Bildern war viel Geld zu machen, während Vermeer mehr und mehr in Vergessenheit geriet. In München etwa nahm das aus heutiger Sicht schon tragisch absurde Züge an, denn die unfassbar subtil gearbeitete „Frau mit der Waage“ wurde 1826 für einen Spottpreis verscherbelt. Max I. Joseph, Vater des kunstmanischen Ludwig I., hatte das Gemälde einst erworben. Nach seinem Tod ist es dann ganz unten auf der Veräußerungsliste als günstiges Objekt von einem Unbekannten gelandet.
Man kann das heute nicht mehr nachvollziehen, und erst zur Zeit der Impressionisten wurde der Maler, der so kunstvoll „Vom Innehalten“ erzählt, wieder entdeckt und bald mächtig gefeiert. Dass unter diesem vielsagenden Titel nun immerhin elf Gemälde Vermeers und damit fast ein Drittel seines Œuvres in Dresden gezeigt wird, ist zumindest in Deutschland eine Sensation. Und das angereichert mit durchweg erstklassigen Werken von Kollegen wie Gabriel Metsu, Gerard ter Borch oder Pieter de Hooch.
Leihgaben aus dem Rijksmuseum
Zu Vermeers Dresdner Briefleserin, die mit ihrem freigelegten Amor verständlicherweise den Mittelpunkt der Schau bildet, sind Leihgaben wie die „Briefleserin in Blau“ (1663) sowie die „Straße in Delft“ (1658) aus dem Rijksmuseum gekommen. Die erwähnte „Frau mit der Waage“ (1664) durfte die National Gallery of Art in Washington verlassen (2013 war sie schon einmal in München zu sehen, und nach Dresden wird sie wohl mit Reiseverbot belegt). Die „Junge Dame mit Perlenhalsband“ (1662/65) stammt aus der Berliner Gemäldegalerie und der „Geograf“ (1669) aus dem Frankfurter Städel.
Das ist eine gut getroffene Auswahl, wenngleich man freilich jeden Vermeer nimmt, der sich bietet. Aber die um 1670/72 und damit über zehn Jahre nach der Dresdner Briefleserin entstandene „Junge Frau am Virginal stehend“ aus der National Gallery in London hat ebenso einen Amor über sich – den Zwillingsbruder. Weitere Liebesgötter sind auf der „Unterbrochenen Musikstunde“ aus der New Yorker Frick Collection sowie beim „Schlafenden Mädchen“ aus dem Metropolitan Museum of Art auszumachen. Und in Vermeers Nachlass ist das Gemälde eines „Cupido“ erwähnt, das er wohl sein Malerleben lang im Fundus hatte.
Den Pigmentexegesen ist jedenfalls nicht zu widersprechen, und man hat ja nun auch ein gereinigtes Bild von umwerfender Leuchtkraft – und mit einer glasklaren, bedeutungsschweren Aussage, die über das vordergründig Amouröse hinausgeht. Das muss noch eine Weile sacken, gleichwohl passt diese Version der Briefleserin womöglich besser zu den stillen Solistinnen, die innehalten, um über ihr Leben zu sinnieren, über die Vergänglichkeit und nicht zuletzt über das „rechte“ Sein in einer Welt, die so ungemein sinnlich und lockend erscheint.
Die Liebe ist in der Ausstellung präsent
Das vermitteln die Stillleben genauso wie die Genreszenen zwischen harmlosem Ankleiden bei der täglichen Toilette (Gerard Dou) bis zur handfesten Verkupplung. Dieser Vermeer ist ja nicht vom Himmel gefallen, auch wenn man Superstars wie ihn nur allzu gerne zu Solitären stilisiert. Das etwa durch Vorhänge vorgeführte Spiel zwischen realer und fiktiver Welt wird im Delfter Umkreis oder bei den Malern in Leiden längst gepflegt. Das Motiv des Spiegelns weiblicher Figuren, das für Selbsterkenntnis und die Gratwanderung hin zur Eitelkeit steht, entwickelt vor allem Gerard ter Borch. Überhaupt ist die Liebe gerade in den intimen Interieurszenen präsent, sei es beim gemeinsamen Musizieren – das deutet auf die Harmonie der Geschlechter – oder bei Paaren, die beim Wein sitzen. Und zum Teil wird das durch die Anwesenheit eines Cupido unterstrichen. Schreibende und lesende Personen tauchen auch in zahlreichen Bildern von Metsu und ter Borch auf, für das sehr angesagte Verfassen von Liebesbriefen gab es sogar gedruckte Anleitungen.
Vermeer hat sich von Anfang an intensiv mit dem Schaffen seiner Zeitgenossen auseinandergesetzt. Doch er sticht heraus. Nicht nur, weil manches feiner, geistreicher, geheimnisvoller auf die Leinwand kommt und seine Lichtführung so ungemein raffiniert ist, sondern mit seinen in sich gekehrten Figuren. Für sie ist die Zeit stehen geblieben – und in der Folge auch für all die Menschen, die in diesen Bildern Ruhe finden und im besten Fall der Welt ein wenig abhandenkommen. Das war immer schon die Qualität einer Kunst, die Vermeer par excellence vor Augen führt und die inzwischen kostbarer denn je geworden ist. Sofern man sich die Zeit nimmt.
"Johannes Vermeer. Vom Innehalten" bis 2. Januar 2022 in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Zugang über Buchung eines Zeitfensters unter www.skd.museum Besucherservice Telefon 0351/49 14 2000