James Ensor in Antwerpen: Abgründe des Bürgerlichen

Mit bitterbösen Bildern hat James Ensor der belgischen Gesellschaft um 1900 den Spiegel vorgehalten. 75 Jahre nach seinem Tod zeigt die wichtigste Schau zum Jubiläum, dass dieser Künstler immer noch ziemlich aktuell ist
von  Christa Sigg
Unter den Masken sitzt das Grauen. James Ensor hat das 1890 entstandene Gemälde nicht ohne Grund "Die Intrige" genannt. Möglicherweise handelt es sich um eine Hochzeitsgesellschaft. Ensors Schwester Mariette war kurze Zeit mit einem Chinesen verheiratet, doch die Sache ging ziemlich schief. Das sei auf dem Bild verklausuliert - erzählt man im Ensorhaus in Ostende.
Unter den Masken sitzt das Grauen. James Ensor hat das 1890 entstandene Gemälde nicht ohne Grund "Die Intrige" genannt. Möglicherweise handelt es sich um eine Hochzeitsgesellschaft. Ensors Schwester Mariette war kurze Zeit mit einem Chinesen verheiratet, doch die Sache ging ziemlich schief. Das sei auf dem Bild verklausuliert - erzählt man im Ensorhaus in Ostende. © Foto: Hugo Maertens/KMSKA

Eitel war er und extravagant. Unter den mehr als 100 Selbstbildnissen demonstriert das ein besonders flamboyantes mit auffälligem Blumenhut und leicht überheblichem Blick. James Ensor posiert da wie ein barocker Meister, und unwillkürlich muss man an seinen Landsmann Peter Paul Rubens denken, über dessen Vorliebe für mollige Frauen er sich mokierte.


Es gibt aber auch diesen herrlichen Hang zur Selbstironie. Etwa, wenn sich Ensor als Gerippe porträtiert und dann gerne im Anzug mit Schlips und Kragen. Auf einem seiner bekanntesten Gemälde steht er in dieser Montur reichlich bekleckert an der Staffelei - mit ausnehmend breitem Lächeln. "Ja, ich male noch", scheint er hämisch durch die Zahnlücken zu zischen, "und Bilder, die ihr sowieso nicht versteht".

"Das malende Skelett" entstand um 1896, da war Ensor Mitte dreißig und hatte seine vielleicht beste Phase. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Dass ihm noch so viel Zeit bleiben würde, konnte er damals nicht ahnen: Heute vor 75 Jahren ist er knapp 90-jährig gestorben. Doch der lässige Umgang mit Schädeln und an sich Gruseligem ist typisch für den Eigenbrötler aus Ostende.

Totenköpfe, Muscheln, Postkarten: Der Laden von Ensors Mutter ist eine Wunderkammer

Mit einem Memento mori, wie es im flämischen Barock gang und gäbe war, hat das freilich nichts zu tun. Am Strand fand man regelmäßig Knochen, auch von Seeleuten, und im Souvenirladen von Mutter und Tante muss es ausgesehen haben wie in einer Wunderkammer. Gebeine und ausgestopfte Tiere waren schon für den kleinen James Alltäglichkeiten. Und in der Kunst kommen Totenköpfe immer gut, ob als Zeichen grüblerischen Tiefgangs, für den morbiden Kick oder um sehr raffiniert auf Distanz zu gehen. Und warum nicht als stilbewusster Knochenmann von Welt?

Dass Ensor sein ganzes Leben in Ostende verbracht hat, muss dem keineswegs widersprechen. Durch die Bauwut von König Leopold II. war aus dem Fischerdorf in den 1870er Jahren ein Hotspot der Hautevolee geworden - mit Kasino, Pferderennbahn, Kursaal und prächtigen Belle-Époque-Bauten. In diesem "Nizza des Nordens" konnte man es schon aushalten, zumal ein Superstar wie Caruso auf seinen Tourneen durch Europa höchstens einen Abend in Brüssel sang, aber bald einen Monat lang in Ostende.


Ensors Familie hatte durch den Handel mit Urlaubsandenken ein passables Auskommen. Den Touristen saß das Geld locker, für Postkarten und Muscheln sowieso. Auf diese Weise haben sich auch die Eltern des Künstlers kennengelernt: Der Vater, ein englischer Ingenieur aus reichem Hause, verliebte sich in die bodenständige Flämin Catharina Haegheman - und blieb. Beruflich konnte er dagegen nie Fuß fassen, und mit seinem starken Hang zum Alkohol wurde Ensor senior bald zum Gespött der Leute. Der Schöngeist förderte allerdings das Talent des Sohnes und ließ ihn bereits mit elf Jahren von örtlichen Kunstmalern unterrichten.

Ensors Vater ist das Gespött der Leute


Ensor verehrte seinen Vater sehr. Dass ihm die Ostender so übel mitspielten und den im Suff Wehrlosen einmal fast zu Tode prügelten, hat er nie vergessen und sich auf seine Art revanchiert. Ihre spießbürgerliche Scheinheiligkeit entlarvt er mit hoch expressiven Masken. 1890 lässt er sie vergnüglich nebeneinander posieren, als wollten sie beim Karneval - und Ostende ist eine Hochburg - gerade ins nächste Lokal schunkeln.

Bei näherer Betrachtung wird dieser Reigen immer unheimlicher. Fiese Fratzen öffnen Augen und Münder, die Blicke grenzen ans Debile, und ein Kleinkind liegt wie leblos über der Schulter einer feisten Mamsell. Der wahre Hexensabbat tobt unter den Larven, unberechenbar, aggressiv, und mit dem Bildtitel "Intrige" ist alles gesagt.


Ensor analysiert präzise, Politisches und genauso Privates, das verbindet ihn mit kritischen Geistern wie Honoré Daumier oder Paul Gavarni. Und bei all seinen köstlichen Ausflügen in die Grafik ist er durch und durch Maler, der lustvoll in die Farbtöpfe greift. Wenn sich feuriges Rot, Schwefelgelb und Giftgrün begegnen, kann es oft nicht grell genug sein. Da ist er den Expressionisten um Jahre voraus.

Dabei will Ensor nie so recht in eine Schublade passen. Es gibt allenfalls Verwandtschaften und aufschlussreiche Fernbeziehungen. Das ist im Königlichen Museum der Schönen Künste in Antwerpen in einer aufschlussreichen Ausstellung zusammengebracht. "Ensors kühnste Träume" bildet den Höhepunkt des Jubiläums, Belgien feiert seinen Malerhelden schon das ganze Jahr. Doch am generalsanierten Haus verwaltet man die größte Ensor-Sammlung überhaupt und kann dieses Œuvre in sämtlichen Facetten auffächern.


Die Schwester beim Austernessen - was für ein Aufreger!


Das beginnt mit atmosphärischen Seestücken und düster-realistischen Saloneinlagen, von denen er sich bald löst, um bei den französischen Impressionisten zu stöbern. Bei Manet natürlich, aber auch Pissarro, Monet oder Degas. Das ist erwartbar und wird erst spannend, wenn er selbst die Konventionen ignoriert. Etwa mit einem Bildnis seiner wenig eleganten Schwester beim Austernessen - im unangemessenen Großformat.

Wobei die Gegenüberstellung mit Emil Nolde und Edvard Munch, also Künstlern seiner Generation, überraschende Parallelen wie das Faible fürs Maskenhafte offenbaren. Doch Ensor ist vor allem Ensor. Beim "Einzug Christi in Brüssel", seinem Opus magnum von 1888/89, greift er ein klassisches Sujet auf, um es mit seinem eigenen Symbolismus und seiner eigenen Ikonografie zu durchdringen. Das hat Sprengkraft. Jesus, der auf seinem Esel durch die belgische Hauptstadt reitet, landet in einem aberwitzigen Massenauflauf aus christlicher Prozession, Faschingsumzug, Polit-Demo und Militärparade. Dazu trägt der Gottessohn eindeutig die Züge des Künstlers. Das ist der Gipfel.

Küsse unter Männern und nackte Hintern


Ensor hat aber auch keinerlei Scheu, sein direktes Umfeld vorzuführen. Auf dem Wimmelbild "Die Badenden" lässt er die Ostender ganz ungeniert das tun, was sie gemeinhin verbergen: vom Betreiben eines Bordells bis zum Zungenkuss unter Männern. Nicht zu vergessen den Spannern, die sich zwischen kopulierenden Hunden, entblößten Hintern und sonstigen Unschicklichkeiten wie beim Blättern im Pornoheft erregen. Pardon wird nicht gegeben.

Dass just eine Kopie dieses Bildes heute im Ensorhaus in Ostende dazu einlädt, mit den animierbaren Motiven zu spielen, ist ein netter Treppenwitz der belgischen Kunstgeschichte. Dabei hat sich Ensor selbst als Voyeur ins Strandbild gezeichnet. Bei aller Bissigkeit gehen der Humor und das anziehend Skurrile jedenfalls nie verloren. Und er bleibt rätselhaft, ist nie ganz zu fassen. Das macht diesen exzentrischen Einzelgänger auch heute noch so ungemein interessant.

"Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus" bis 19. Januar im Königlichen Museum Schöner Künste Antwerpen. Mehr Ensor auf www.ensor2024.be

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