Im schön konstruierten Rausch
Manchmal mag man sich gar nicht so recht entscheiden, welche Seite nun die interessantere ist. Das schräge Trio mit „Masken auf der Straße“ (1910), das vor einem fahlgrünen und fleischrosanen Gaukler-Hintergrund auf uns zu tänzelt. Oder eben doch die elegante „Dodo“ (1909), deren malvenblau kühles Gesicht wie ein Fremdkörper aus einem fröhlichen Bad von Zitronengelb (Kleid), Orangerot (Sessel), Apfelgrün (Tapete) und allerlei bunten Farbtupfern (Borte und Fächer) heraussticht. In der Pinakothek der Moderne hat man jetzt sogar beides, das Gemälde ist so in eine Stellwand eingelassen, dass man Vorder- und Rückseite studieren kann. Wobei gerade die Geliebte Dodo ein wunderbares Beispiel ist für den „Farbmenschen Kirchner“, um den es hier geht.
Nicht im Sinne des Klischees, dem man allzu gerne auf den Leim geht. Also der wilden Mär vom Farbrausch, einem geradezu ekstatischen Hinwerfen der knalligen Pasten, vom Unmittelbaren, im Grunde Unkontrollierten, von der Rasanz im Prozess des Schaffens. Und das betrifft ja nicht nur Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), sondern den Expressionismus an sich. Dass just der gelernte Architekt Kirchner, der sein Leben lang wie ein Besessener gezeichnet hat – im Zug und selbst im Kino –, auch ein exakt kalkulierender Komponist der Farbe war, ist zumindest in diesem Ausmaß doch überraschend.
Wachs steigert die Leuchtkraft der Farben
Wie so viele seiner Kollegen hat er natürlich experimentiert, etwa die Farben aus den Pelikantuben mit Wachs gemischt, was seinen Bildern eine ganz besondere Leuchtkraft gab. Und lange gefeilt an Positionen, Kombinationen, Details – um das Ergebnis dann doch zu überarbeiten. Immer wieder. Zufrieden war dieser Maler eigentlich nie. Bisweilen ändert er gleich mehrfach die Datierung, versieht die letzte Version wieder mit dem Entstehungsjahr der ersten. Das wirkt innovativer, man zelebriert sich geschickt als Vorreiter. Von der dauernden Selbstreflexion und der Kritik am eigenen Werk ganz zu schweigen.
Kirchner verwarf frühe Arbeiten, vornehmlich aus der Dresdner Zeit, nahm die Leinwand ab und zog sie mit der „leeren“ Fläche wieder auf den Rahmen. So entstanden die doppelseitigen Werke, die immerhin gut ein Achtel seines OEuvres ausmachen. Drei davon – darunter die eingangs erwähnte „Dodo“ – sind von beiden Seiten zu sehen. Andere werden Mitte Juli gedreht (u.a. „Das Zelt“ und die „Frauen beim Tee“), schon deshalb lohnt es sich, die Ausstellung ein zweites Mal zu besuchen.
Doch es geht den Exponaten der Schau noch deutlicher ans Eingemachte. Eine langjährige Forschungskooperative des Doerner Instituts, der Stuttgarter Kunstakademie mit ihrem Institut für Technologie der Malerei u.a. machte es möglich: Erstmals wurde mit Kirchner ein Expressionist durchleuchtet, wie das sonst vor allem die Alten Meister über sich ergehen lassen (unter dem Titel „Drunter und drüber“ gab’s in der Alten Pinakothek 2011 spannende Einsichten in die Werkprozesse Dürers, Cranachs und Kollegen). Konkret durch Infrarot-, Röntgen- wie UV-Aufnahmen.
Die Analyse nimmt nichts vom Zauber dieser Kunst
Und auch hier wird schnell evident, dass man sich von der Vorstellung des Spontanen, des Direkten verabschieden muss. Das „Drunter“ der „Badenden Frauen“ (1915/25 – ein besonders schönes Exempel für mehrfaches Hin- und Her-Datieren) zeigt, dass sich mit den Übermalungen die Brüste runden, der Raum schlichtere Farbflächen gewinnt, die Fliesen verschwinden...
Diese sehr genauen Analysen nehmen jedoch nichts vom Zauber dieser Kunst, der rosaroten Reiterin, die im „Cirkus“ kopfüber vom Pferd hängt, den „Blauen Artisten“, die wie eine Hand voll Insekten in einem gelbgrünen Nest aneinander kleben, dem so existenziellen, eindringlichen Selbstbildnis (1918/30) des schwierigen, durch Schmerztherapien bald morphinsüchtig gewordenen Künstlers.
Und die Staatsgemäldesammlungen können aus dem Vollen schöpfen, mit 19 Arbeiten besitzt man in München die umfangreichste Kirchner-Kollektion unter Deutschlands Museen, vor allem aus der Berliner Phase von 1911 bis 1916, die hier komplettiert wird mit famosen Leihgaben aus Davos – etwa dem Farbkracher „Sertigtal im Herbst“ von 1925/26 –, aus Frankfurt oder Stuttgart. Man lernt den zigfach quer durch die Lande präsentierten Künstler in dieser 90 Werke umfassenden Schau allerdings nicht nur von der Schaffensseite, sondern im Zuge dessen auch als Typ erstaunlich gut kennen. Also nicht allein von der Schauseite.
„Farbenmensch Kirchner“ bis 31. August 2014, Katalog (Deutscher Kunstverlag) 24.90 Euro, Information zum Forschungsprojekt unter www.kirchner-projekt.abk-stuttgart.de