Hanne Darboven: Wenn Wum sich vor dem TV langweilt

Doppelte Hommage: Bonn und München feiern das überbordende Werk der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven
Christa Sigg |
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Doppelte Hommage: Bonn und München feiern das überbordende Werk der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven

Wo soll man anfangen? Mittendrin in diesem Raster-Meer gerahmter Seiten? Sitzt im Detail die Erklärung? Und was ist überhaupt der Sinn dieser dauernden Überbordung? Man könnte hier leicht ungehalten werden. Und ist ratlos. Ratlos vor allem, wenn man sich dem Werk Hanne Darbovens (1941-2009) mit den üblichen Erwartungen nähert und das Ganze durchdringen oder eine Botschaft aus dieser – nennen wir es ruhig – Anmaßung herausfieseln will.
„Wir hätten locker vier riesige Museen mit ihrem Oeuvre füllen können“, bemerkt Rein Wolfs, der Intendant der Bundeskunsthalle Bonn in München. So sind es „nur“ zwei Häuser, die sich diese erste große Retrospektive seit dem Tod der Konzeptkünstlerin aufteilen. Und während man sich in Bonn auf politische Arbeiten wie die „Bismarckzeit“ (1978) konzentriert, steht im Haus der Kunst die Auseinandersetzung mit der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte im Fokus.
Blatt für Blatt hat die Tochter einer Hamburger Kaufmannsfamilie mit ihren Zahlenfolgen gefüllt, Quersummen aus Kalenderdaten gebildet und damit ein immer komplexer werdendes System ausgetüftelt. Oder bei den „Schreibarbeiten“ endlos Wort an Wort gesetzt, getrieben von einem unfassbaren Pflichtbewusstsein, das ihren gesamten Lebensrhythmus bestimmt hat.

Erstmal die Ziegen füttern, dann Schreibstube

Frühmorgens um vier, wenn die Ziegen gefüttert waren, setzte sich Darboven in ihre Schreibstube, um nach exakt acht Stunden den Griffel aus der Hand zu legen. Kunst ist zu allererst Arbeit, das Tagwerk musste vollbracht werden. Überhaupt hatte ihr Leben viel von dem eines Mönchs. Da war dieses asketische Äußere, das raspelkurze Haar, die schmale, fast ausgemergelte Figur, die meistens in einem schlichten dunklen Herrenanzug steckte. So, wie ihn früher die Buchhalter im Kontor der Kaffeerösterei getragen haben.
Mit dem Unterschied, dass Darbovens Zahlensysteme und Auflistungen nicht für Warenmengen und -werte stehen. Sondern Tage, Monate und Jahre festhielt, als könnte sie nicht nur die Zeit im Begriff des Vergehens, sondern auch das Geschehene fassen – mit dem nicht eben bescheidenen Anspruch, ein ganzes Universum aufs Papier zu bringen und zugleich ein eigenes zu kreieren. Selbst in der Musik: Darboven lässt ihre Berechnungen in (wenig inspirierende) Notationen übersetzen.
Zigtausende von Seiten sind so entstanden, und die Künstlerin kombiniert sie oft genug mit Postkarten, Fotos, Magazinseiten, Formularen. Im zentralen Saal mit der „Kulturgeschichte von 1880-1983“ sind unglaublichen 1590 Blättern 30 000 Postkarten zugeordnet. Dazu kommen 19 Objekte wie ein hölzernes Karussellpferd oder zwei Schaufensterpuppen in 70er-Jahre-Trainingsanzüge. Greifbare Reichs- und BRD-Vergangenheit.
Darboven „dokumentiert“ damit mehr als hundert Jahre einer politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Deutschen. Ohne Analyse, ohne dezidierte Wertung. Die Zusammenfassung des Zeitgeists überlässt sie u. a. dem Politmagazin „Spiegel“ und dessen Titelseiten. Das Spektrum reicht vom alten Adenauer über den „Kampf um die Pfunde“ bis zu Loriots Hund Wum, den das TV-Programm anödet.
Wie Souvenirs einer verlorenen Zeit fungieren die einzelnen Bilder. Doch wer hier nach inhaltlichen Zusammenhängen fahndet, tappt im Dunkeln, um schließlich in der Gesamtschau der gerahmten und exakt in Reihen übereinander platzierten Seiten dann auch wieder etwas Wohltuendes auszumachen: eine Ordnung.

Minimal Art in New York, Datenmassen und Souvenirs der Zeit

Genauso bedarf Darbovens unstillbare Wissensgier der Reglementierung. Etwa in den „Erfindungen, die unsere Welt verändert haben“ (1996), von der Druckerpresse bis zum drahtlosen Telegraphen.
Die entsprechenden Abbildungen werden eingebettet in Kommentare aus dem Brockhaus. Aber häufig sind es auch nur die Darboven-typischen Schrift simulierenden Wellenlinien, die zum Beispiel die Orte, Sehenswürdigkeiten und Landschaften der Arbeit „Erdkunde I, II, III“ (1986) „erläutern“.
Unüberblickbares muss in Reihen und Spalten gebracht werden. Und vermutlich ist dieses Prozedere nicht zuletzt auch getragen von der alten Sehnsucht nach einer Summa allen Wissens, wie sie die mittelalterlichen Theologen und Philosophen antrieb.
Kopflastig mag das scheinen, doch in der Kombination mit Krempel und Antiquitäten gewinnt dieses Werk eine emotionale Ebene. Im „Musikzimmer“ voller Instrumente, das dem Aufbau im Atelierhaus in Hamburg-Haburg nachempfunden ist, hat man das in Konzentration – in Bonn sind es Berge von Puppen und Spielzeug („Kinder dieser Welt“), die den Besucher fast anrühren und zugleich ein Bild der manischen Sammlerin Hanne Darboven vermitteln.
Dauernd musste sie auf dem Familienanwesen anbauen, bis zur Decke gefüllt waren Lager und Arbeitsräume. Dabei hatte sich diese Frau in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in New York der Minimal Art verschrieben, mit seriellen Konstruktionszeichnungen. Die überschaubaren Blätter sind geblieben, doch in ihrer Vielzahl haben sie im Lauf der Zeit zu immer gewaltigeren Werks-Dimensionen geführt.
Parallel dazu schossen die Datenmengen in die Höhe, die an elektronischen Rechnern verarbeitet werden können – mittlerweile auf minimalen Räumen. Insofern ist die so ausdauernde Hanne Darboven bei aller formalen Ästhetik ihrer wundersamen Ordnungen auch eine grandiose Anachronistin.

„Zeitgeschichte“, Kunsthalle Bonn, bis 17. Januar; „Aufklärung“, Haus der Kunst München, bis 17. Januar. Katalog: Prestel Verlag, 49,95 Euro

 

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