Glasklare Bekenntnisse: Ausstellung von Schweizer Scheibenrissen in der Pinakothek der Moderne

Es gibt kuriose Formen des Patriotismus. Gerade in der Schweiz, wo die Fahnendichte - die Eidgenossen sprechen nicht von Flaggen - in den Bünten, also in den Schrebergärten, schon beim Grenzübertritt explosionsartig in die Höhe schnellt. Und man könnte noch einiges aufzählen, aber all das dürfte nicht an eine kunsthistorische Eigentümlichkeit des 16. Jahrhunderts heranreichen: Es gibt jenseits des Bodensees tatsächlich Bärenputten und somit auch einen Meister der Bärenputten. In Bern natürlich, wo sonst.
Ausstellung in der Pinakothek der Moderne
Die Rede ist von Jakob Kallenberg, einem Maler und Holzschneider, der vor allem durch Scheibenrisse auffiel. Auch das ist eine Schweizer Spezialität, die sonst nur noch in den angrenzenden Gebieten Süddeutschlands und des Elsass' gepflegt wurde.

In der Pinakothek der Moderne sind nun rund 80 Blätter zu sehen, klug zusammengestellt von Kurator Achim Riether. Der Begriff erklärt sich von selbst, denn es geht um Risse, also Zeichnungen, die als Vorlagen für aufwendige Scheiben gedient haben. Diese verglasten Fenster an Privathäusern, Handwerksbetrieben oder Gaststuben - gerne in auffallenden Farben - kamen wie Aushangschilder oder Werbeplakate zum Einsatz.
Scheibenrisse: Vorläufer der modernen Leuchtreklame
Etwas überspitzt könnte man von den Vorläufern der modernen Leuchtreklame sprechen. Denn passend zum Beruf war in das meist sehr aufwendige Bildprogramm ein typisches Symbol eingefügt: beim Bäcker eine Brezn, ein Stierkopf beim Metzger oder für den Müller ein Mühlrad.
Und mit einem Wappen konnte man diesen Auftritt noch weiter individualisieren. Zumal in der Schweiz Wappenfreiheit geherrscht hat, jeder durfte sich sein Wunsch-Emblem zusammenpuzzeln. Die Basler Familie Hummel etwa besorgte das mit dem adäquaten Insekt.
Verdichtung von Episoden aus der Bibel oder der Schweizer Geschichte
Das wirklich Spannende sind freilich die Geschichten, die auf eine Szene verdichtet wurden. Damit tat man ein Lebensmotto kund, oft genug ging es um Moral - wir sind schließlich in der zwinglianischen Schweiz.

Und da boten sich Episoden aus der Bibel an wie zum Beispiel das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder der folgenreiche Ehebruch von David und Bathseba. Dazu kamen Allegorien und Ereignisse aus der Antike - oder der Schweizer Geschichte.
Engagement renommierter Künstler: Von Holbein über Murer bis zu Merian
Der Anspruch an die Qualität dieser Kabinettscheiben war enorm, deshalb wurden die renommierten Künstler der Zeit engagiert wie etwa die Holbeins und deren Mitarbeiter, der Zürcher Glasmaler und Illustrator Christoph Murer, der viel zu wenig bekannte Tobias Stimmer, der locker mit den Holbeins mithält, und in der Spätphase dann auch der Kupferstecher Matthäus Merian, der im frühen 17. Jahrhundert ein wichtiger Verleger in Frankfurt werden sollte.
Noch vor der Ausbildung zum Radierer hat Merian um 1607 in Basel eine Glasmalerlehre absolviert. Aus dieser Zeit stammt auch der ihm zugeschriebene Riss mit der Allegorie der Geometria, die mit einem Stechzirkel die Abstände auf einem Globus bestimmt. Als Lehrmeisterin weist sie eine wenig interessierte Männerrunde in ihre Kunst ein, während im Hintergrund vier Kundige mit Lot und Sextant die Höhe eines Turms messen.
Details zeigen Alltagsgeschehen
Solche Details sind kein Einzelfall. Scheibenrisse erzählen gerade im Oberlicht eine Menge über den Alltag. Das reicht von handwerklichen Tätigkeiten bis hin zu Zechgelagen.

Dass auf dem Blatt nur die linke Seite komplett ausgeführt ist, hat ökonomische Gründe. Man vermied unnötige Arbeit. Bei den stets symmetrisch angelegten Scheiben wiederholen sich rechts von der Spiegelachse Architektur und Ornamentik. Die Glaswerker mussten also nur die Füllung duplizieren.
Die Mannheimer Kollektion von Kurfürst Carl Theodor
Dass solche Risse ausgerechnet in München an der Graphischen Sammlung verwahrt werden, hat mit Kurfürst Carl Theodor zu tun. In seiner Mannheimer Kollektion befanden sich etwa 150 Blätter aus einem Basler Werkstattbestand. Und wie so vieles, das heute die Münchner Museen schmückt, sind sie mit dem Besteigen des bayerischen Throns als Mitbringsel in die neue Heimat gereist.
Insgesamt werden rund 300 Scheibenrisse gezählt. Damit besitzt man in München zwar nicht die meisten, allerdings die bedeutendsten Exemplare dieser Kuriosität. Schade nur, dass so wenige Gläser erhalten sind. Doch da war die Aufklärung wieder mal besonders eifrig bei der Sache.
Pinakothek der Moderne, bis 8. Januar 2023, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18, donnerstags bis 20 Uhr