Gilbert & George im AZ-Interview: Die ganze Welt eine Kunstgalerie

Egal, wo die beiden auftauchen: Gilbert und George sind stets perfekt gekleidet, die Maßanzüge aufeinander abgestimmt, Schlips und Einstecktuch identisch. Das ist natürlich ein fabelhafter Trick, um sich gentlemenlike dem Publikum zu nähern.
Gilbert Prousch (75) aus St. Martin in Thurn und George Passmore (77) aus Plymouth arbeiten seit den späten 1960er-Jahren als Duo und stehen häufig selbst im Mittelpunkt ihrer Kunst. 1986 erhielt das Paar den Turner Prize, 2005 vertrat es Großbritannien auf der Biennale von Venedig.
Das schaut dann auch entzückt auf die poppig-sakralen Bilder – und entdeckt bei genauem Hinsehen: Genitalien, Körperöffnungen und Fäkalientürme. Doch keine Sorge, das Künstlerduo kann auch anders. Neben einer ausführlichen Filmbiografie zeigt das Filmmuseum den längst Kult gewordenen Clip "The Singing Sculpture", mit dem am Donnerstag das Festival "Kino der Kunst" eröffnet wird.
Die beiden kommen dafür extra nach München und haben sich beim Interview, das wir an Georges 77. Geburtstag per E-Mail geführt haben, schon mal warm gelaufen.
AZ: Mr. Prousch, Mr. Passmore, wann hatten Sie das letzte Mal einen Streit?
GILBERT & GEORGE: Ah, die ganz entscheidende heterosexuelle Frage! Wir streiten nie, und wenn, dann würden wir Ihnen das nicht sagen. Die ganze Welt ist doch eine einzige große Debatte, ein Kampf, ja Krieg – deshalb wollen wir da nicht mitmachen.
Sie leben ein klar abgezirkeltes Leben. Stimmt es, dass Sie jeden Abend ins selbe Restaurant gehen und dann auch immer das Gleiche bestellen?
Wenn wir alleine sind wie an den meisten Abenden, gehen wir seit dreißig Jahren immer in dasselbe wunderbare kurdische Restaurant. Es heißt übrigens Mangal II. Wir lesen dort auch nie die Karte, sondern nehmen jedes Mal das Gleiche und zwar bis zu dem Abend, an dem wir uns fast übergeben müssen. Dann wählen wir für die nächsten Monate neu aus. Wir haben schon an den Beschneidungsfeierlichkeiten der beiden Söhne des Besitzers teilgenommen, die sind jetzt gute 20 Jahre alt. Was wir in einem Restaurant suchen, ist einfach: köstliches Essen und Keller, die man küssen kann.
1986 erhielt das Paar den Turner Prize. Foto:dpa
Wir Profanen haben jetzt die Verantwortung!
Sie bemühen sich in Ihren reich ornamentierten Bildern um eine ausgewogene Komposition, um passende Farben, um Symmetrie. Wie wichtig ist die Schönheit in Ihrer Kunst?
Die Schönheit in unserer Kunst unterstützt die Bedeutung und den Inhalt, sie bringt quasi unsere Nachricht an den Betrachter.
Gilbert, Sie kommen ursprünglich aus dem wirklich schönen Südtirol. Hatten Sie nie Heimweh nach den Dolomiten?
Keiner von uns hat Heimweh nach seiner fürchterlichen, ländlichen, rückständigen und intoleranten Heimat. Wir sind der Natur gegenüber zutiefst misstrauisch. Und wir glauben, dass eine exzessive Liebe zur Natur zu Totalitarismus führt.
Dann lassen Sie uns von etwas Schönerem sprechen. Sie beide sind so alt wie die Beatles. Als Sie sich kennengelernt haben, 1967 am St. Martin's College, kam der Song "All You Need Is Love" heraus. Eigentlich passend, oder?
Ja, wir sind beide Kriegskinder und 1942 beziehungsweise 1943 geboren. Wir sind in einer zerstörten Gesellschaft aufgewachsen, in der jeder an eine einfache Wahrheit geglaubt hat: Alles wird besser. Und ja, die Liebe hat dann ihren Weg in unsere moderne Welt gefunden, eine Welt, in der der Krieg von sämtlichen zivilisierten Menschen geächtet wird.
Liebe spielt auch im Christentum eine große Rolle. Sie verstehen sich allerdings als explizite Gegner von Religionen.
Wir sagen immer "Verbietet die Religion" und natürlich auch: "Entkriminalisiert den Sex". Wir können einfach nicht an Götter glauben, die sich Menschen ausgedacht haben. Wir Profanen haben jetzt die Verantwortung! Man muss allerdings sagen, dass wir von den humaneren, intelligenteren Geistlichen inzwischen eine gewisse Unterstützung erhalten.
"Wir sind zwei Personen, aber ein Künstler"
Immerhin wurden Sie 2017, im Luther-Jahr, in die Berliner Kirche St. Matthäus geladen, um Ihre ziemlich politischen Werke zu zeigen. Auf einem Bild tragen Sie lauter kleine Bomben am Körper, so wie Sprengstoffgürtel. Was macht Ihnen Sorgen, der Terror?
Ja. Wir sind politisch, weil wir glauben, dass Kunst und Kultur der Politik voraus sind. Die Menschen wählen eine bestimmte Kultur – außer natürlich in den vielen noch verbliebenen Diktaturen, in denen die Kultur eingeschränkt ist.
Sie erlauben sich in Ihrer Kunst keinerlei Einschränkungen, sie geht quasi in Ihren Alltag über. Wird dadurch nicht alles, was Sie tun, zur Skulptur?
Wir sind zwei Personen, aber ein Künstler. Damit sind wir eine "Lebende Skulptur", die sich durch unsere und Ihre Welt bewegt. Man könnte auch sagen, wir befinden uns mit unseren visionären Nachrichten und Ansichten auf einer Reise zu Ihrem und unserem Ende.
Amen, beim Barte des Propheten. Auf den Bildern Ihrer neueren Serie "Beard Pictures" – Bart-Bilder – tragen Sie tatsächlich Bärte wie Propheten oder Hipster. Übrigens hinter einer Rasterung, die sich als Zaun entpuppt.
Bärte gibt es doch in allen Kulturen, bei den Juden, Muslimen oder den Sikhs, dann wären noch die Hipster, die Landstreicher, Gott, Jesus, der Teufel, der Weihnachtsmann und Heinrich VIII. Alles wird hier zu einer Verbindung von Ort und Zeit. Als wir jung waren, wäre niemand mit einem Bart in einer Cocktailbar eingestellt worden – heute bekommt man einen solchen Job nicht mehr ohne Bart. Auf den "Bart-Bildern" sind auch Zäune und Stacheldraht zu sehen, durch die die Menschen mit ihren Bärten auch wieder zusammenkommen.
Gilbert, Sie kommen am Donnerstag nach München, wo Sie ja auch studiert haben, bevor Sie nach London gingen. Hat es Ihnen hier nicht gefallen?
Unsere gesamte Studentenzeit in München, Devon, Oxford und London war vom Glanz unserer Jugend und unserer Kunst bestimmt. Wir waren in einer Gemeinschaft der Toleranz, des "anything goes" (alles geht) und der freien Liebe. Was kann sich ein Student mehr wünschen?
Diese freizügigen Tage liegen 50 Jahre zurück. Wovon träumen Sie heute?
Wir träumten von einer Welt voller Schönheit und Glück, voller Reichtum und immer neuen Wonnen, voller Freude und Kinderlachen, süßer Musik und Farben und Formen, einer Welt köstlicher Katastrophen, von herzzerreißendem Kummer, voller Abscheu und Furcht, einer vollkommenen Welt also – und die ganze Welt eine Kunstgalerie. Das war der Text, den wir uns 1969 ausgedacht haben, und jetzt, 2019, sind wir 50 Jahre weiter und glauben mehr denn je daran.
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Gilbert und George kommen am Donnerstag, 19 Uhr, ins Filmmuseum im Stadtmuseum zur Vorführung von "The World of Gilbert & George" von Philip Haas und "The Singing Sculpture"
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Kino der Kunst
Von Banksy bis Buñuel – Künstlerfilme zum Auftakt: Das Festival "Kino der Kunst" vom 30. April bis 5. Mai geht mit einem Bouquet außergewöhnlicher Künstlerfilme in die Vorrunde im Filmmuseum.
Die Reihe beginnt am Donnerstag, 10. Januar, 19 Uhr, Auftakt mit "The World of Gilbert & George" von Philip Haas und "The Singing Sculpture".
Es folgen (immer mittwochs um 21 Uhr)...
16. Januar: Alejandro Jodorowsky: "Poesia Sin Fin"; 23. Januar: Banksy - "Exit Through The Gift Shop"; 30. Januar: Christoph Girardet und Matthias Müller - "Kristall, ontre-jour, Meteor; 6. Februar: Agnès Varda - "Visages Villages"; 13. Februar: Rä di Martino - "La Controfigura"; 20. Februar: Luis Buñuel - "Ein andalusischer Hund"; 27. Februar: Rebecca Horn - "La Ferdinanda: Sonate für eine Medici-Villa"; Filmmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, 21 Uhr, Telefon 23 39 64 50, www.kinoderkunst.de