Kritik

Gerhard Richter in Nürnberg: Darf man den Augen trauen?

Kein Werk mit sieben Siegeln: Wer in Gerhard Richters Schaffen tief eintauchen möchte, hat im Neuen Museum Nürnberg nun die ideale Gelegenheit
Christa Sigg |
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Ein Memento mori der schlichten Art? Man sollte sich nicht täuschen lassen. Der "Schädel mit Kerze" aus dem Jahr 1983 zahlt zu den bekanntesten Gemälden Gerhard Richters.
Gerhard Richter 2024/Neues Museum Nürnberg, Annette Kradisch 4 Ein Memento mori der schlichten Art? Man sollte sich nicht täuschen lassen. Der "Schädel mit Kerze" aus dem Jahr 1983 zahlt zu den bekanntesten Gemälden Gerhard Richters.
Digitale Vorzüge hin oder her, vor dem ganz realen Kunstwerk - in diesem Fall Gerhard Richters Ölgemälde "Ingrid" von 1984 - macht das Erkunden das größere Vergnügen. Schon, um den Farbauftrag genau zu sehen.
Gerhard Richter 2024 / Neues Museum Nürnberg, Annette Kradisch 4 Digitale Vorzüge hin oder her, vor dem ganz realen Kunstwerk - in diesem Fall Gerhard Richters Ölgemälde "Ingrid" von 1984 - macht das Erkunden das größere Vergnügen. Schon, um den Farbauftrag genau zu sehen.
Gerhard Richters herrlich unscharfes "Seestück (bewölkt)" aus dem Jahr 1969 ist nicht das, was man meint zu sehen.
Gerhard Richter 2024/Neues Museum Nürnberg/Annette Kradisch 4 Gerhard Richters herrlich unscharfes "Seestück (bewölkt)" aus dem Jahr 1969 ist nicht das, was man meint zu sehen.
Typisches Rakeln: Gerhard Richters "Abstraktes Bild" von 1991.
Gerhard Richter 2024/Neues Museum Nürnberg, Annette Kradisch 4 Typisches Rakeln: Gerhard Richters "Abstraktes Bild" von 1991.

Er redet nicht viel, und wenn, dann leise. Das macht Gerhard Richter erst einmal sympathisch, gerade im Vergleich zu den gemeinhin etwas polternder auftretenden Kollegen aus der Altherrenriege. Auf der anderen Seite hätte man nichts dagegen einzuwenden, wenn der bedeutendste unter den noch werkelnden deutschen und eigentlich auch internationalen Malern hin und wieder ein paar Hinweise geben würde.

Aber das Sphinxhafte des mittlerweile 92-Jährigen macht es genauso spannend. Es geht ja schon damit los, dass man sich nie ganz sicher sein kann, wann etwas abstrakt ist und wann gegenständlich. Nehmen wir nur das "Seestück", das in den drei neu eingerichteten Richter-Räumen im Neuen Museum Nürnberg zu den zentralen Gemälden zählt. Durch den typischen Zugriff des Künstlers kommt es noch um einiges verwuschelter daher, als das bei einer wolkenverhangenen Meerlandschaft - hoch oben im Norden vielleicht - der Fall ist. Das Gräuliche überwiegt, zum Horizont hin steigern sich die Blautöne, auf den Wellen tänzeln weiße Gischtinseln. Doch bei allen Unschärfen ist das eine irgendwo zu verortende Aussicht aufs Wasser. Meint man.

Tatsächlich hatte Richter verschiedene Fotovorlagen, schnitt Himmel und Wasser auseinander und puzzelte die Versatzstücke neu zusammen. Streng genommen ist Caspar David Friedrich mit seinen Skizzen ähnlich verfahren. Eine Baumstudie aus der Sächsischen Schweiz konnte auf einem Bild aus einer ganz anderen Region wieder auftauchen. Friedrichs "Watzmann" ist so ein wildes Konglomerat, der Maler war selbst nie in Berchtesgaden.

Freilich sollte man unterscheiden, etwas Konstruiertes ist noch keine Abstraktion. Was wir allerdings sehen, muss mit der Realität nicht unbedingt etwas zu tun haben. In digitalen Zeiten ist das zur Banalität geworden, sicher, und doch lässt sich unser Gehirn so leicht austricksen. Gerhard Richter führt das auch in einem fast vier Meter breiten Triptychon von 1971 vor Augen. Der Titel "Ausschnitt" müsste einen bereits stutzig machen. Was nach einem aquarellhaften Auftrag von Gelb, Blau, Rot und Weiß ausschaut und sich virtuos ineinanderschiebt wie die Luftmassen auf einer Wetterkarte, ist nur ein stark gezoomtes Detail aus Richters Malpalette.

Der multimediale Guide ist der Clou dieser Schau

Die Hintergründe erfährt man über einen vom bayerischen Kunstministerium unterstützten Multimedia-Guide, der übrigens auch die Fotografien parat hat, die als Vorlagen dienten. Wer mag, kann eigene Ausschnitte wählen, Vergrößerungen ausprobieren - und stellt fest, dass Richter es ziemlich gut getroffen hat. Diese App ist neben den gut zwanzig formidablen Werken der Clou dieser Präsentation. Wer sich normalerweise mit solchen Formaten und den oft allzu dünnen Texten schwertut, wird angenehm überrascht sein. "Gerhard Richter. On Display" liefert in der Kürze genau das, was man wissen muss, um selbst zu grübeln, zu variieren und um in ein Œuvre einzutauchen, das in einer Tour das Sehen reflektiert.

Dass Nürnberg eine so gewichtige Richter-Sammlung beherbergt, ist einer Dauerleihgabe zu verdanken, die in weiten Teilen bereits vor zehn Jahren ans Neue Museum kam und jetzt in einer ständigen Ausstellung gezeigt wird. Der Unternehmer Georg Böckmann und seine Familie sind seit vielen Jahren mit dem Künstler befreundet und haben mit feinem Gespür angekauft, gerade auch, wenn Gerhard Richter wieder einmal neue Wege einschlug. Deshalb gibt diese Kollektion zugleich einen Überblick: von einem Frühwerk aus Akademietagen über die Fotogemälde wie den berühmten "Schädel mit Kerze" oder die nur scheinbar simplen Farbtafeln bis hin zu den abstrakten Rakelbildern. In dieser Qualität können das die gut bestückten Münchner Häuser nicht bieten. Und im Depot wartet noch mehr.

Neues Museum Nürnberg, bis mindestens Februar 2025, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr; online: www.nmn.de

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