Ein Mittelklassewagen fürs Regal

Aufwändiger geht’s nicht: Ein Münchner Verlag hat das legendäre Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches faksimiliert
Christa Sigg |
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Franz Kirchweger ist ein zurückhaltender Mann. In seinem Job kann das nur von Vorteil sein, dauernd hat er mit den empfindlichsten Dingen zu tun, und ohne die typischen weißen Handschuhe geht gar nix. Prall gefüllt ist die Schatzkammer der Wiener Hofburg mit jahrhundertealten Ornaten, mit Goldschmiedearbeiten und Urkunden. Doch diesmal greift er lustvoll in eine Prachthandschrift, streicht über die Seiten – mit bloßen Händen! Restauratoren kann man damit in den Wahnsinn treiben: Kirchweger blättert in einem der kostbarsten Bände überhaupt, dem Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches.

Natürlich ist auch der Kunsthistoriker nicht verrückt geworden, er hat ein Faksimile vor sich, also eine Kopie, die dem Original inzwischen so nahe kommt, dass man selbst Experten zumindest für kurze Zeit an der Nase herum führen könnte. Der Münchner Faksimile-Verlag aus der Bertelsmann-Gruppe hat sich auf diese hochwertigen Reproduktionen im Bereich mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bilderhandschriften spezialisiert. Nimmt man die Anfänge in Luzern dazu, ist das Unternehmen fast vierzig Jahre im hochspezialisierten Geschäft, doch das Krönungsevangeliar toppt alles.

472 Seiten mit Purpur - teurer als Gold

Zum einen liegt das am fragilen Original. Über 1200 Jahre hat es auf dem Buchbuckel, kurz vor 800 ist es in Aachen entstanden, in der angesehenen Palastschule Karls des Großen. Schon damals war die Sache extraordinär: Mit vier ganzseitigen Evangelistenbildern – von Markus, Matthäus, Lukas, Johannes – und 16 Kanontafeln (sie klären über die inhaltlich entsprechenden Abschnitte der Evangelien auf) ist das Manuskript zwar nicht im Übermaß bebildert, aber für die Ausführung wurde alles verwendet, was edel und kostspielig war. Mit goldener oder silberner Tinte schrieben die Künstler – einer hinterließ sogar frech seinen Namen Demetrius Presbyter – auf 472 purpurnen Seiten. Dieser Farbstoff, gewonnen aus dem Drüsensekret einer äußerst raren Stachelschneckenart, war teurer als Gold und in der Antike den Herrschern vorbehalten.

Just das Purpur macht auch heute noch den meisten Ärger. Es changiert zwischen Rot und Violett oder doch Blau? Und manchmal scheint es fast schwarz. Hier den richtigen Ton in einer neuzeitlichen Druckfarbenskala zu finden, ist ein Kunststück für sich.

Die Auftraggeber an der Aachener Königspfalz hatten aber auch einen besonderen Stil im Sinn. Nicht die Mitglieder der Hofschule waren am Werk, für den Spezial-Auftrag wurden Künstler engagiert, die vielleicht aus Italien oder Griechenland kamen, ihre Ausführungen sind jedenfalls deutlich byzantinisch beeinflusst. Das war um 800 völlig retro, aber genauso angesagt. Man wollte sich bewusst auf die Antike beziehen, am Hofe Karls eine Art Leitmotiv.

Otto III. ließ das Grab Karls des Großen öffnen

Und auch die Geschichte, die sich um das kostbare Buch rankt, ist kurios: Otto III. – der Kaiser ist derzeit in der Hypo-Kunsthalle in einem Evangeliar der Reichenauer Schule zu bewundern – ließ das Grab Karls im Jahr 1000 öffnen. Der Legende nach fand man den unversehrten Leichnam mit dem Krönungsevangeliar auf den Knien. Kein Wunder also, dass die Handschrift Teil der Reichskleinodien wurde – neben Reichskrone, Reichsapfel oder Reichskreuz, die inzwischen in Wien in besagter Schatzkammer liegen.

Fortan legten die erwählten Könige die Schwurhand auf den Anfang des Johannes-Evangeliums, während sie den Eid sprachen. Entsprechende Spuren sind nicht zu übersehen – und auch im Faksimile exakt wiedergegeben.

Während römisch-deutsche Herrscher die Handschrift jahrhundertelang in Aachen und Frankfurt betatscht hatten, wird sie heute selbst Staatsoberhäuptern vorenthalten. Zu empfindlich! Umso erstaunlicher, dass das Kunsthistorische Museum in Wien vor zwei Jahren grünes Licht gab und das gute Stück aus dem Klimatresor holte. Aber das Haus zieht selbst Vorteile daraus, kann den teuflisch echt geratenen Fake nun ausstellen – und das komplett. Denn aus konservatorischen Gründen müssen Handschrift und Einband getrennt aufbewahrt werden. Wobei die Nachbildung des spätgotischen Buchdeckels ein Kapitel für sich ist.

30.000 Euro kostet ein Exemplar - man darf in Raten zahlen

Die um 1500 von Hans von Reutlingen gefertigte Platte aus vergoldetem Silber und kostbaren Edelsteinen besitzt auch vollplastisch gearbeitete Figuren, denen ein 3-D-Scanner zu Leibe rücken musste. Teilchen für Teilchen wird der Deckel reproduziert, die vernickelte oder versilberte Kupferplatte vergoldet und patiniert, Details zusammengesetzt. Das Einfügen der bunten Ersatz-Edelsteine aus Glas ist da noch die bequemste Übung. Überhaupt greifen beim Faksimilieren modernste Hightech und uraltes Handwerk fein ineinander. Vom Abfotografieren der einzelnen Seiten mit einer Hasselblad 4-Shot-Kamera bis zur Präzisionsarbeit des Buchbinders, der jeden aus pergamentähnlichem Spezialpapier gefertigten Bogen – wie beim Original gleicht keiner dem anderen – zusammenfügt.

Für heutige Verhältnisse geht das extrem langsam, und mit 333 Exemplaren wird diesmal auch nur ein Drittel der üblichen Auflage gefertigt. Aber das Krönungsevangeliar hat auch seinen Preis: 29980 Euro muss man dafür hinblättern – Ratenzahlung wird gerne eingeräumt.

Natürlich ist der Kundenkreis überschaubar, wer stellt sich schon einen gehobenen Mittelklassewagen ins Regal, mit dem er noch nicht mal in der einschlägigen Kunstszene angeben kann. Von bibliophilen Rechtsanwälten und Ärzten ist die Rede, auch von einer auffallenden Zahl an Lehrern und Professoren, die sich womöglich einen Traum erfüllen. Wer Glück hat, darf von Berufswegen drin blättern. So wie jetzt Franz Kirchweger in Wien.

Das Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches (472 Seiten, 29980 Euro, www.faksimile.de)

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