Ein echtes Novum: Das Salzkammergut ist Kulturhauptstadt 2024

Athen, Florenz, Amsterdam. So lauteten die Namen der ersten europäischen Kulturhauptstädte, als das Format Mitte der 80er Jahre gestartet wurde. Mittlerweile sind zahlreiche Metropolen, aber auch kleinere Städte hinzugekommen. Eine ländliche alpine Region jedoch war bisher nicht dabei. Gemeinsam mit Tartu in Estland und Bodø in Norwegen tragen die 23 Gemeinden der österreichischen Region Salzkammergut mit dem bekannten Kurort Bad Ischl im Zentrum den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2024.
Fast zwei Dutzend Gemeinden mit unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur, mal industrieller, mal landwirtschaftlicher, mal touristischer Prägung zusammenzubringen, um ein Kulturprogramm zu erarbeiten, das Strahlkraft über die Region hinaus entwickeln soll, war keine einfache Aufgabe. In der Vorbereitungsphase soll es sogar zu einer Wirtshausschlägerei gekommen sein. Doch am Ende ist das Nebeneinander unterschiedlicher Sichtweisen und Anschauungen spannender und vielleicht auch produktiver als eine zuckergusssüße Harmonie, die alle Bruchstellen und Konfliktzonen übertüncht.
Schroffe Berge, tiefe, fjordartig wirkende und Seen, teils abgelegene Gemeinden und eine ganz auf den Rohstoff Salz fokussierte, 7000 Jahre zurückreichende und bis heute erfolgreiche Industriegeschichte bilden die Eckpfeiler dieser Region.
Salzkammergut wird Kulturhauptstadt: Aufarbeitung einer Geschichte, "die nicht immer angenehm ist"
Mit dem eleganten, nostalgisch-kaiserlichen Kurort Bad Ischl im Zentrum kommt allerdings noch eine legendäre Fremdenverkehrsstadt hinzu, die im 19. Jahrhundert Sommer für Sommer zur heimlichen Hauptstadt der österreichischen Monarchie mutierte. Hier verbrachte nicht nur Kaiser Franz Joseph mit seiner Ehefrau Elisabeth die Sommerfrische, sondern auch weitere Mitglieder des Hochadels und der feinen, oftmals jüdisch-intellektuellen, Wiener Gesellschaft. Darunter Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Franz Lehár oder Theodor Herzl.
Mit der in Wien geborenen Kulturmanagerin, Intendantin und Kuratorin Elisabeth Schweeger als künstlerischer Leiterin hat die Kulturhauptstadt eine konflikterprobte Expertin verpflichtet, die sowohl im Bereich der darstellenden als auch der bildenden Künste über jahrzehntelange Erfahrung verfügt. Schweeger war Chefdramaturgin am Bayerischen Staatsschauspiel in München und Schauspiel-Intendantin in Frankfurt. Sie hat für die Documenta gearbeitet sowie 2001 den österreichischen Pavillon auf der Biennale Venedig kuratiert, den die österreichische Künstlergruppe gelatin damals in eine schlammige Sumpflandschaft verwandelte.

Was sie an der Aufgabe reizt, fasst Elisabeth Schweeger so zusammen: "Ich finde diese Region besonders interessant, weil sie uns genau die Schwierigkeiten, die die Welt hat, nämlich in Frieden zu leben, aufzeigen kann. Es ist eine alpine Region, die von einer unglaublichen Vielfalt lebt, die ganz viele Möglichkeiten hat, sich weiterzuentwickeln, die eigensinnig und eigenwillig ist. Wenn sich 23 Gemeinden entschlossen haben, so ein riesiges Unterfangen wie eine Kulturhauptstadt in einem alpinen ländlichen Raum auf den Weg zu bringen, ist das der erste Schritt, um darauf hinzuweisen: Miteinander sind wir stärker. Und die Kunst hat auch das Zeug dazu, uns wirklich zueinander zu bringen und gemeinsam starkzumachen, gerade in einer geopolitischen Situation, wo sich Europa zwar nicht neu erfinden, aber zumindest neu definieren muss."
Ausgehend von dieser Feststellung hat Schweeger mit ihrem vielköpfigen Expertenteam vier Programmlinien entwickelt. Rund 300 Veranstaltungen und Projekte listet das umfangreiche Kulturhauptstadtprogramm auf. Die Aufarbeitung einer Geschichte, "die nicht immer angenehm ist", so Schweeger, bildet einen der Schwerpunkte. So wird es in Kooperation mit dem Lentos Museum in Linz eine dreiteilige Ausstellung unter dem Titel "Die Reise der Bilder. Hitlers Kulturpolitik, Kunsthandel, Einlagerungen, Bergungen in der NS-Zeit im Salzkammergut" geben, die sich mit der unrühmlichen Vergangenheit des Salzkammerguts als zentralem Umschlagplatz und Versteck von NS-Raubkunst beschäftigt.
Ausstellungen in Bad Ischl und im Salzkammergut: Salz, Wasser und Holz als Kulturelemente
Gezeigt werden mehr als 70 Kunstwerke, darunter Gemälde von Goya, Tizian oder Edvard Munch, die im Zweiten Weltkrieg geraubt, ins Salzkammergut verschoben, dort versteckt und schließlich durch die Alliierten gerettet wurden. Das Kammerhofmuseum in Bad Aussee untersucht die Verstrickungen des Kunsthändlers und NS-Profiteurs Wolfgang Gurlitt (1888-1965).
Und die in Berlin lebende japanische Künstlerin Chiharu Shiota wird einen der beklemmendsten Orte, den KZ-Gedenkstollen Ebensee, mit einer raumgreifenden Installation aus roten Seilen und 25 überlebensgroßen, roten Kleidern ganz neu ins Licht der Aufmerksamkeit rücken. 8745 Menschen wurden hier ermordet. Der sachlich-trockenen Basisinformation auf der Erläuterungstafel am Eingang des feucht-kalten Tunnellabyrinths fügt sie eine berührende Komponente hinzu. Shiota dazu: "Für die Installation bilden die Kleider die Form eines Körpers ab und füllen den Raum mit einer nicht greifbaren Anwesenheit. Ich arbeite schon lang mit dem Konzept der "Anwesenheit in Abwesenheit" und finde es interessant, welche Assoziation die Leere bei den Besuchern hervorruft."

Die zentrale Hauptausstellung des Kulturhauptstadtjahres findet aber in Bad Ischl statt. Kurator Gottfried Hattinger versammelt im ehemaligen Sudhaus mehr als 15 internationale Positionen zeitgenössischer Kunst, die sich mit Salz, Wasser und Holz beschäftigen – somit den materiellen Triebkräften der Region. Mit dabei sind etwa die israelische Künstlerin Sigalit Landau, der Brite Simon Starling und der Deutsche Michael Sailstorfer. Daneben werden aber unter dem Motto "Art Your Village – Der fremde Blick" auch etliche kleine Gemeinden zu Experimentierfeldern für künstlerische Interventionen. Eingeladen ist zum Beispiel der in Lagos und Berlin lebende nigerianische Documenta-Teilnehmer Emeka Ogboh.
Neben dem Schwerpunkt Bildende Kunst bietet das Programm jedoch zahlreiche weitere Attraktionen. So wird es im Bereich Musik Kooperationen mit dem Bruckner-Jahr 2024, anlässlich des 200. Geburtstags von Anton Bruckner geben, daneben aber auch Darbietungen Neuer Musik. Aber auch ein Pionier der Neuen Volksmusik gehört zu den Aushängeschildern der Kulturhauptstadt: Der aus der Region stammende Hubert von Goisern wird mit seinem jodelnden "Chor der 1000" nicht nur das im Fernsehen übertragene Eröffnungskonzert am 20. Januar bestreiten, sondern mit "akustischen Übergriffen der besonderen Art" in der warmen Jahreszeit auch hin und wieder auf Straßen und Plätzen präsent sein.
Geplant ist auch ein Theaterfestival unter Beteiligung großer Bühnen Europas sowie Konferenzen zu Themen wie Klimawandel, Overtourism, Bodenversiegelung und Mikrofarming. Außerdem werden zusammen mit renommierten jungen Köchen wie Christoph "Krauli" Held aus Bad Ischl und Jugendlichen aus der Region ambitionierte Projekte entwickelt, die dem Aussterben der Wirtshauskultur entgegenwirken sollen. So lädt Helds Projekt "Wirtshauslabor" junge Berufsschüler aus der Tourismusbranche dazu ein, ein ehemaliges Bahnhofslokal unter seiner Anleitung in Eigenregie neu zu erfinden und zu betreiben.
Denn auch darum geht es Elisabeth Schweeger: Das Globale mit dem Lokalen zu vernetzen, um für eine Region, die stark von der Abwanderung der Jungen in die größeren Städte betroffen ist, neue, weit über das Kulturhauptstadtjahr 2024 hinausweisende Perspektiven aufzuzeigen. Eine Kulturhauptstadt, deren bunter Veranstaltungsreigen am Ende wie eine Feuerwerksrakete verpufft, ist nicht ihr Ziel. Stattdessen: Nachhaltigkeit. Elisabeth Schweeger: "Kulturhauptstädte können Anregungen geben, wie das stattfinden kann, Formate vorschlagen, versuchen, etwas anzustoßen, internationale Vernetzungen ermöglichen, Brücken bauen, Türen öffnen und darauf hinweisen: Hier liegt ein Potenzial, darauf kann weiter gebaut werden."
Kulturhauptstadt Bad Ischl und das Salzkammergut: Eröffnungswochenende am 19. bis 21. Januar, www.salzkammergut-24.at