"Die letzten Europäer"-Ausstellung: Geburt einer friedlichen Idee

Die Krise der Solidargemeinschaft: Die Ausstellung "Die letzten Europäer" im Jüdischen Museum.
von  Roberta de Righi
Schriststeller, Autor und Journalist unter vielen Namen: Lew Nussimbaum alias Essad Bey, Berlin,1923:
Schriststeller, Autor und Journalist unter vielen Namen: Lew Nussimbaum alias Essad Bey, Berlin,1923: © Tom Reiss

München - Das Haus Europa ist einsturzgefährdet, Nationalisten und Demokratieverächter sägen am Fundament. Da kommt eine Ausstellung im Jüdischen Museum gerade recht: Unter dem Titel "Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee" legt diese eindrücklich dar, worauf Europa gründet, und welche jüdischen Denker daran beteiligt waren.

Die Präsentation basiert - wie zuletzt 2019 die erhellende Schau "Sag Schibbolet - von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen" - auf der Konzeption des Jüdischen Museum Hohenems und wurde für die größeren Räume in München adaptiert.

Komplexes Thema auf zwei Etagen

Die Kuratorinnen Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feuerstein-Prasser stellen ihr komplexes Thema auf zwei Etagen dar: Im ersten Geschoss wird das Publikum zunächst von großer Leere empfangen. Der gesamte Raum ist Installation, in der die Geburt der europäischen Idee aus der Asche zweier Weltkriege und unzähliger weiterer Konflikte erlebbar wird.

Dokumentierung sämtlicher Völkermorde

An der Wand schriftlich dokumentiert sind neben der Ermordung von sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland sämtliche Kriege und Völkermorde, an denen die Länder Europas - auch jenseits des Kontinents - beteiligt waren: Vom Genozid der Belgier an zehn Millionen Kongolesen ebenso wie der Türken an den Armeniern (mehr als eine Million), vom tunesischen und algerischen Unabhängigkeitskampf bis zum Kosovo-Krieg.

 

Europas Gewaltgeschichte

Ein besseres, friedlicheres Europa erwuchs also quasi aus dem Massengrab von mehr als 125 Millionen Menschen. Die schieren Zahlen machen sprachlos, Projektionen historischer Fotografien lassen Europas Gewaltgeschichte anschaulich werden. Eine Leuchtanzeige, die die 125 Millionen Toten bis zum Ende der Schau auf Null runterzählt, spornt - durchaus provokant - zum weiteren Nachdenken an.

Der Europa-Gedanke und seine Kehrseiten

Im zweiten Stock beleuchten dann 16 multimediale Stationen die wesentlichen Aspekte des Europa-Gedankens: Hehre Ziele wie der Kampf für Frauen-, Minderheiten- und Menschenrechte, Pazifismus und Ökologie und der Imperativ des "Niemals vergessen!". Aber auch die Kehrseiten der Solidargemeinschaft, etwa die oft missbrauchte Floskel vom "christlich-jüdischen Abendland", die explizit den Islam ausschließt, und die alle Anderen brutal abwehrende Festung Europa.

Prägende Persönlichkeiten

Außerdem werden prägende Persönlichkeiten vorgestellt wie die Résistance-Kämpferin und EU-Parlamentspräsidentin Louise Weiss, Esperanto-Erfinder Ludwik Zamenhof, Nachrichten-Pionier Paul Julius Reuter oder der Shoah-Überlebende und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal. Fassungslos muss man nachlesen, dass er in Österreich Zeit seines Lebens antisemitisch bedroht wurde - und das ohne Strafverfolgung der Täter, u.a. aus den Reihen der FPÖ.

Walter Rathenau

Ein Fragezeichen wirft das Kapitel über den "Vordenker" Walther Rathenau auf, den die begleitende Publikation als "Paradebeispiel für die unaufgelöste Spannung zwischen Deutschem und Juden" vorstellt. Der jüdische Unternehmersohn (AEG) war im Ersten Weltkrieg aktiv in die Kriegsplanungen involviert und unterstützte die Beschäftigung belgischer Zwangsarbeiter in deutschen Rüstungsbetrieben. Seit Anfang 1922 Außenminister der Weimarer Republik wurde er am 24. Juni desselben Jahres ermordet - von Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Consul.

Rathenau plädierte für eine Zollunion, ihn interessierte Europa vor allem als Wirtschaftsraum. Ein Idealist wie der Kosmopolit, Schriftsteller und Gründer der Paneuropaunion Richard Coudenhouve-Kalergi wird (als Nichtjude) nicht einmal am Rand erwähnt. Da zeigt sich auch, dass man die Versionen von Europa - ökonomisch-politisch und intellektuell-kulturell - noch klarer hätte konturieren können.

Diese Infos fehlen

Und dass die Terror-Truppe der Organisation Consul, die aus der Schwarzen Reichswehr hervorging und sich der "Bekämpfung alles Inter- und Antinationalen, des Judentums und der Sozialdemokratie" verschrieben hatte, von der Altschwabinger Trautenwolfstraße aus republikweit agierte, erfährt man ebenfalls nicht - was hier durchaus sinnvoll zu ergänzen wäre. Dennoch überzeugt das anspruchsvolle Gesamtkonzept der Schau gerade in seiner Dialektik, die Widersprüche nicht verdeckt, aber dabei auch deutlich aufzeigt, was wir zu verlieren haben.

Jakobsplatz, bis 21. Mai, Di - So, 10 bis 18 Uhr

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