Die andere Seite der Postkarte

Marseille ist Kulturhauptstadt Europas 2014. Sie gilt als südliches Aschenputtel der glamourösen französischen Mittelmeerküste. Das hat aber auch Vorteile und ändert sich gerade ... ein wenig
von  Adrian Prechtel

Was ist es, weshalb wir bei Städtereisen manchmal unbewusst enttäuscht sind? Es ist das Phänomen, dass sich Innenstädte mittlerweile so stark ähneln. Sie sind Vorzeige-Vitrinen globaler Konsumtempel geworden, keine Orte des Alltagslebens.

Marseille ist anders. Wenn man abends am alten Hafen entlangschlendert, sind die Spaziergänger aus den umliegenden Vierteln, Männer in Shorts schieben Kinderwägen, die Altstadt ist fest in der Hand eines bunten Volkes. Und selbst da am Quai, wo die Deutsche Wehrmacht 1943 einen ganzen Teil des verschachtelten, auch jüdischen Hafenviertels sprengte und die Franzosen brutal-mondäne Häuserblocks bauen ließ, sind die Lokale mit Blick auf die vielen kleineren Segelboote immer noch viel lässiger als im gar nicht so fernen Saint Tropez.

Wenn Marseille in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt ist, so will sich damit die Stadt auch neu erfinden. Ähnlich dem Guggenheim-Bilbao-Effekt hofft man auf eine Anziehung durch den fantastischen neuen Museumsbau am Südwest-Ende des Hafens. Verbunden mit der alten Burg, dem Fort Saint-Jean, ist hier das Mucem entstanden – ein Museum der europäischen Zivilisationen und des Mittelmeers.

Das organische Betonnetz, durch das das intensiv türkise Meer schimmert und in der Sommerhitze flimmert, ist schon als Bau ein eigenes Kunstwerk. Es ist wie eine moderne Zauberinsel, aber so lebendig, dass hier die Marseiller auf 44 000 Quadratmetern ihre Freizeit verbringen, essen, flanieren, staunen, dösen.

Das Mucem ist erst im Juni eröffnet worden, gebaut hat es passenderweise der Algerienfranzose Rudy Ricciotti. Denn es spannt den Bogen von Napoleons Ägyptenfeldzug über die Kolonisierung des Mittelmeerraumes, von Jerusalem als Hauptstadt der drei Glaubensrichtungen rund um das Mittelmeer, von Athen über das venezianische Weltreich, von Nassers Ägypten, dem Algerienkrieg bis zum arabischen Frühling.

Das passt zum Image der Stadt, die zeitweise den drittgrößten Mittelmeerhafen beherbergte, heute eine Strukturkrise durchlebt und jetzt wieder neu erstrahlen will.

„Schon wachsen die Palmen, noch rauschen die Kastanien. Das ist nicht mehr Frankreich, das ist Europa, Asien, Afrika, Amerika. Das ist weiß, schwarz, rot und gelb. Alle Erden aber segnet dieselbe nahe, sehr heiße, sehr helle Sonne, und über alle Völker wölbt sich dasselbe blaue Porzellan des Himmels“, schrieb der Schriftsteller Joseph Roth 1925 – und schlägt den Bogen zum besonderen Licht des französischen Südens.

Marseille gilt nicht als klassische Kulturstadt, dabei hat sie Hunderte Künstler beherbergt, von Cézanne bis Max Ernst. Große Architekten wie Le Corbusier haben hier gebaut. Im Mucem ist die Ausstellung „Le Noir et le Bleu“ zu sehen, in der von Goya bis Miro Farb- und Formspiele um das Mittelmeer gezeigt werden.

Dazu passt auch die derzeitige große Ausstellung im Museé des Beaux-Arts, im aberwitzigen Palais Longchamps: „Le grand Atelier du Midi“. Hier wird das Farbreich unter der mediterranen Sonne erforscht von Van Gogh bis Bonnard. Diese Ausstellung greift über die Stadt hinaus, umfasst die ganze Provence und Côte d’Azur, verfolgt Gaugin, Cézanne, Monet, Renoir im Süden Frankreichs bis zu den farbwilden Fauvisten.

Man fährt zum Museé des Beaux-Arts im Quartier des Cinq-Avenues mit der ganz modernen Trambahn. In Marseille ist auch die U-Bahn frisch renoviert. Es scheint, als ob man mit gepflegter, moderner Infrastruktur eine Atmosphäre des Aufbruchs erzeugen will in dieser Stadt, die ein Netz ist, aus hundert Dörfern zusammengewachsen, durchschnitten von Neubausiedlungen und Straßenspangen. La Castellane ist ein Stadtteil dieser Art. Der Fußballer Zidane ist hier geboren. Aber die Polizei traut sich fast nicht mehr hierher: Drogenhandel, Überfälle und Schießereien, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der weitaus größte Teil der Bevölkerung sind Einwanderer.

Die Marseiller Eliten sind nervös und hoffen auf eine Renaissance – vor allem der Altstadt. Sanierungen sind unausweichlich. Aber gleichzeitig gibt es in Marseille gut funktionierende Nachbarschaften, wunderbare Märkte wie den „Marché aux Puces“, den „Marché de Noailles“.

So gibt es ein Tauziehen zwischen dem, was die gehobenere Mittelschicht „Rückeroberung“ nennt, und dem wilden, proletarischen Marseille. Ein wunderbares Beispiel für den nur halb gelungenen Versuch der Gentrifizierung ist die fantastische Rue de la République, wo in einem einheitlichen Neoklassizismus jetzt Sozialwohnungen sind, aber schon die ersten Boutiquen aufmachen, ein US-Immobilien-Magnat sich die Zähne ausbiss, aber schon einen Teil an „Besserverdienende“ verkauft hatte. So ist unfreiwillig ein guter Mix entstanden.

Der Referent für Stadtentwicklung hat es im „Figaro“-Interview ausgesprochen: „Man müsste die Hälfte der Bevölkerung loswerden.“ Diese Aussage hat nicht zum Rücktritt geführt. Und die Idee ist nicht neu: Als zu Zeiten der Französischen Revolution Marseille einfach nicht ausführte, was in Paris beschlossen wurde, schickte man einen Prokonsul. Er sollte für Recht und Ordnung sorgen. Der kam unverrichteter Dinge zurück und erklärte: „Marseille ist unheilbar, es sei denn, man deportiert seine Bewohner und ersetzt sie durch andere.“

Mit dem Hunderte von Millionen teuren Projekt „Euroméditerranée“ will man jetzt die Stadt umkrempeln. Hinter dem Hafen der Korsika-Fähren entsteht ein moderner, schicker Stadtteil, die „Terrasses du Port“. Orientierung für Marseille ist Barcelona, eine Stadt, die für modernes, urbanes Leben, aber auch für Romantik steht. Woody Allen hat um diese Marke Barcelona schon einen Postkarten-Film gebaut, so wie auch um Paris. Das geht mit Marseille aber dann doch nicht so leicht. Aber vielleicht ist gerade das der unschätzbare Vorteil dieser Stadt.

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