Der "Blaue Reiter" im Lenbachhaus: Vergessene Vielfalt

Da waren ein paar junge Leute, die aufs Land zogen und die Kunst völlig neu erfanden. Da sind die starken, positiven Farben. Da ist die Reduktion auf klare Formen. Und schon hat man den "Blauen Reiter" gefasst. Dieses simple wie bestechende Profil ließ die Künstlervereinigung zur Erfolgsmarke werden, und wenn irgendwo Marc, Kandinsky, Münter, Macke zu sehen sind, dann stehen die Menschen im Normalfall Schlange.
Münchner Lenbachhaus: Konsequente Besinnung auf den Almanach von 1912
So einfach ist das. Aber eben auch so verkürzt. Zumal die Gruppendynamik (der von der Bundeskulturstiftung geförderte Schwerpunkt im Rahmen des "Museum Global"-Programms) bislang eher mit Dokumenten als mit originaler Kunst verhandelt wurde, und künstlerische Revolutionen gemeinhin doch von mehreren angezettelt werden. Das ist zwar in München kein radikal neuer Ansatz, über die Jahre wurde der "Blaue Reiter" mit immer weiteren Facetten präsentiert und das Spektrum genauso auf die kaum bekannten Mitglieder und Sympathisanten der Künstlervereinigung erweitert, die Frauen entdeckt, die Vorgeschichte oder der theoretische Hintergrund beleuchtet. Und natürlich begann das längst vor der Einrichtung des Anbaus der Lenbachvilla 2013.

Zumal Sammlungsleiterin Annegret Hoberg, die wahrscheinlich beste Kennerin des "Reiters", diesen Prozess seit über 30 Jahren mit erhellenden Einzelausstellungen in die Tiefe führt. Davon hat vieles Einzug in die jetzt neue Dauerausstellung gehalten. Was allerdings hinzukommt, ist die konsequente Besinnung auf den Almanach von 1912, diese vielleicht wichtigste programmatische Schrift der Kunst des 20. Jahrhunderts, die unter anderem die eurozentristische Perspektive verlässt, lange bevor das zur Forderung einer global agierenden Kunstszene wurde. Zum einen liegt der Almanach in aufwendigen Faksimile-Ausgaben aus: Man darf tatsächlich durchblättern! Zum anderen ist vieles aus diesem Sammelwerk und den vorbereitenden beiden Ausstellungen der "Blaue Reiter"-Redaktion nun im Original zu sehen.
Kleine Sensation: Henri Rousseaus "Hochzeit" wird in München hängen

Dass zum Beispiel Henri Rousseaus um 1905 gemalte "Hochzeit" aus den Pariser Musées d'Orsay et de l'Orangerie für ein paar Monate und hoffentlich darüber hinaus in München hängen wird, ist eine kleine Sensation. Genauso sind die im Almanach gedruckten Bilder und Partituren Arnold Schönbergs aus Wien gekommen - Wassily Kandinsky und Franz Marc haben den malenden Komponisten sehr verehrt. Das New Yorker Guggenheim Museum entlässt Robert Delaunays "Die Stadt" von 1911. Und auch am Museum Fünf Kontinente gab man sich ausgesprochen großzügig. Der Almanach ist schließlich gefüllt mit Ethnografika aus Bali, Gabun, Polynesien, Sri Lanka oder Mexiko (Problematisches wie Benin-Bronzen oder der gerade erforschte "Blauer Reiter"-Pfosten aus Kamerun sind nicht dabei), genauso mit Hinterglasmalerei, Kinderkunst, japanischen Tuschzeichnungen oder einer ägyptischen Schattenspielfigur, die nun die ganz erstaunliche Weitung des Kunstbegriffs erfahrbar machen.
Die Kunst kennt weder Grenzen noch Völker, sondern Menschen

"Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit", formulieren es Kandinsky und Marc im Almanach. Das ist sicher die radikalste Haltung dieser Künstler, und erst jetzt beginnt die über 100 Jahre alte Utopie im Museums- und Ausstellungsbetrieb partiell Realität zu werden. Unabhängig davon, dass den Almanach-Autoren der kolonialistische Kontext vieler dieser Objekte gar nicht klar war, bleibt das Konzept des "Blauen Reiter" ein höchst modernes. Auch wenn seine Mitglieder selbst weder aus den alten künstlerischen Hierarchien ausbrachen, noch die Gattungsgrenzen gesprengt haben. Und in erster Linie der "märchenhafte Kaffee" von Maria Marc gelobt wird.

Dass da noch mehr ist, Maria zwischendurch kühn komponiert und dazu ein Faible fürs humorvoll Schräge gepflegt hat, auch das kommt etwa mit den "Tanzenden Schafen" (1908) aufs Tapet. Und außer der sehr präsenten Gabriele Münter und Marianne von Werefkin sind es noch ein paar Frauen mehr, die im Dunstkreis des "Blauen Reiter" zur Bestform aufliefen und sich mit förderlichen Kontakten einbrachten. Erma Bossi etwa besticht mit einer Zirkusszene und die völlig aus der "Reiter"-Geschichte gefallene Russin Elisabeth Epstein mit eindringlichen Selbstporträts.

Neueinrichtung der Dauerausstellung für die nächsten zwei Jahren
Sie sind neben Arbeiten von Albert Bloch, Heinrich Campendonk, Alfred Kubin, Wilhelm Morgner, Wladimir Burljuk zu sehen - übrigens im Hauptraum, der früher Sammlungshöhepunkten wie Marcs "Blauem Pferd I" oder Mackes "Zoologischem Garten" vorbehalten war. Nun leben hier die beiden Ausstellungen der Almanach-Redaktion wieder auf: Ende 1911 in der Galerie von Heinrich Thannhauser und nach der heftigen Kritik dann 1912 bei Hans Goltz. Beide Präsentationen waren eine Antwort auf die ewigen Querelen in der Neuen Künstlervereinigung, die Münter, Kandinsky und Marc Anfang Dezember 1911 verlassen hatten - kurz bevor es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.
Man muss froh sein um diesen Knall. Wer weiß, was sich im Vereinsgemeier abgeschliffen hätte oder gar nicht erst ausprobiert worden wäre. Diese Neueinrichtung der Dauerschau für die nächsten zwei Jahre ist eine historisch kritische. Sich wieder auf die Anfänge zu besinnen, hat gerade beim "Blauen Reiter" etwas ungemein Anregendes. Denn die eingefrästen Bilder erfahren eine beträchtliche Erweiterung. Erstaunlich viele Stile und Typen haben unters Dach des "Reiters" gepasst. Das vermitteln 650 Objekte, von denen ein Gutteil bislang verborgen war.
"Der Blaue Reiter. Gruppendynamik" bis 5. März 2023 im Lenbachhaus, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr, Anmeldung über www.muenchenticket.de