"Das Wagnis der Öffentlichkeit": Gedanken sind frei

München - Gegen Ende der klugen, geistig großen Ausstellung sitzt man in einer der sechs bequemen Hörnischen. Auf dem Bildschirm davor ist Hanna Arendt 1964 in einem deutschen Fernsehstudio zu sehen, wie sie von Günter Gaus befragt wird. Schwerpunkt ist ihr umstrittener Großessay im Hochglanzmagazin "The New Yorker": "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Die Provokationen: Der NS-Staat mit seiner gigantischen Massenvernichtung hatte nichts Dämonisches, Mephistophelisches. Vielmehr war das "radikal Böse" in seiner grauenhaft biederen Funktionärshaftigkeit klein und eben: "banal". Und: Die perverse Kollaboration der Judenräte mit dem Tötungsapparat sei das "Dunkelste im Dunklen" dieser Geschichte.
"Arendt hätte mehr in ihre Zahnregulierung investieren solle"
Da sitzt also diese Frau, Ende 50, mit großer 60er-Jahrebrille, rauchend, konservativ angezogen, Perlenkette, Edelweißbrosche und doch leicht nachlässig gegenüber Äußerlichkeiten - bis hin zu den Zähnen, über die die Feministin und Schriftstellerin Mary McCarthy sagte, Arendt hätte mehr in ihre Zahnregulierung investieren sollen...
Es gibt diesen Klischeesatz vom "beim Denken zuschauen". Hier - in eine Sternstunde des deutschen Fernsehjournalismus' - kann man wirklich erleben, wie rücksichtslos, unverkrampft, selbstbewusst, aber uneitel nachgedacht wird über gesellschaftlich Relevantes.
"Hannah Arendt hatte vielleicht nicht immer recht, sie schoss auch manchmal provokant übers Ziel hinaus, aber sie ging immer das ,Wagnis der Öffentlichkeit' ein, die eine Gesellschaft so dringend braucht", sagt Kuratorin Monika Boll und zitiert damit den Titel der Ausstellung im Literaturhaus. Der Satz von Hannah Arendt selbst meint, dass ein Intellektueller sich bei vollem Risiko eben der Befragung, Kritik bishin zu Anfeindungen aussetzen sollte. "Es gehört zu den Freuden der Pluralität, dass die Welt sich niemals zwei Menschen in dem genau gleichen Aspekte zeigt", schrieb Arendt 1958.
Gestaltungskonzepte von Ausstellungen sind oft verkopft. Hier - nach dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und der Bonner Kunsthalle auf den kleineren Raum im Literaturhaus zurechtgeschnitten - bekommt man Arendts Leben, Person und vor allem ihre Thesen und ihr Denken sinnvoll zusammengestellt. In klarer, linearer Führung geht es farbig und lebendig leicht zickzack und mit Querstellungen einen Ausstellungsweg entlang, der auch Durchsichten hat, was spürbar für die Vernetztheit und Offenheit des Denkens Hannah Arendts steht. Eine weiß gehaltene Querachse ist in die Ausstellung eingefügt. Hier wird eine Videoinstallation gezeigt, die das Gipsmodell des Künstlers Mieczyslaw Stobierski des Krematoriums in Auschwitz zeigt, um zum Thema "Totale Herrschaft" zu führen: ein Begriff Arendts, hinter dem die Beraubung des Menschen von jeglicher Individualität und Handlungsfähigkeit steht - bis zur Ermordung.
"Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" heißt der Untertitel der Ausstellung, was nicht ganz stimmt. Denn ihr Ringen mit Themen, wie zum Beispiel dem Flüchtling-, Staatenlos-, Emigrant-Sein ist immer noch aktuell. Nicht zufällig wurde ihr Artikel "Wir Flüchtlinge" von 1943 bei Reclam 2016 neu aufgelegt und bildet auch ein Kapitel der Ausstellung.
Für Hannah Arendt waren die USA - als Nationen-Staat statt Nationalstaat - mit ihrer freiheitlichen Verfassung eine Befreiung, so dass sie auf ihre Einbürgerung 1951 stolz war. Was sie natürlich nicht gehindert hat, sich mit dem dortigen Rassismus auseinanderzusetzen - aber auch hier nicht gerade mainstreamig. Denn als die Rassentrennung an Schulen per Obersten Gericht aufgehoben wurde und 1957 die Bundespolizei in Little Rock, Arkansas, schwarzen Schülern den Zugang zu Schulgebäuden gewaltsam erzwang, war Arendt dagegen. Sie rechnete das Schulische zum Privat-Gesellschaftlichen und nicht zum politischen Bereich, so dass es den Eltern selbst überlassen werden müsse, wer mit wem in die Schule ginge.
Hannah Arendt war weder links noch konservativ noch liberal
Für die amerikanische Studentenrevolution 1968 hingegen hatte Arendt große Sympathie. Der deutschen Variante riet sie, weniger marxistisch und freudianisch zu sein und sich mehr mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu beschäftigen.
Hannah Arendt war weder links noch konservativ noch liberal, sondern fundiert und frei, streitbar und glasklar verständlich und daher zu allem, wozu sie Stellung nahm, immer unheimlich bereichernd. Wer denkt und analysiert darf sich eben nicht vor einen ideologischen Karren spannen lassen, sonst wird man zum simplen Propagandisten. Und am Ende - auch der Ausstellung - ist klar: Uns fehlt in allen Gender-, PC-, Klima- und Sozialdebatten eine furchtlose Intellektuelle wie Hannah Arendt.
Ob Hannah Arendt (1906 - 1975) in ihrem Leben, mit zwei Ehen, auf zwei Kontinente bezogen, bewundert und angefeindet als eine der wenigen Frauen im akademischen und gesellschaftlichen Diskurs glücklich war? "Sie war genauso unglücklich, wie eine Romantikerin unglücklich sein muss, um glücklich zu sein", sagte sibyllinisch ihre Freundin Mary McCarthy. Und eines der letzten Kapitel ist den "Freundschaften" gewidmet. In einer Vitrine liegt eine Minox-Miniaturkamera, gekauft in München, drum herum Privatfotografien, die Arendt von Menschen machte, die ihr so etwas wie Geborgenheit und Sicherheit im Abenteuer dieses intellektuellen Lebens schenkten.
Salvatorplatz, bis April 2022, täglich 11 - 18 Uhr, 7 bzw. 5 Euro