Betörend und verstörend: William Turner im Lenbachhaus
Wo endet das Meer? Wo beginnt der Horizont? William Turner hat im 19. Jahrhundert Bilder gemalt, die vieles offenlassen, die faszinieren und verstören. Dass das Münchner Lenbachhaus den Kunstbau damit füllen kann, ist eine Sensation.
William Turner kassierte Spott für seine Kunst: Ein "häuslicher Scherz an einem Waschtag"
Was die Welt im Innersten zusammenhält? Vielleicht das Chaos, das sich auf diesen Bildern Raum verschafft? Am Himmel raufen sich dann die düstersten Wolken zusammen, der Ozean zerlegt sich in gigantische Wogen, die ihre Gischt wie Glassplitter durch die Atmosphäre schleudern. Man hört die Schiffsplanken schon krachen, und doch beginnt über dem dürren Mast friedlich helles Azurblau zu funkeln. 1842 hat Joseph Mallord William Turner alles auf die Spitze getrieben - und bitteren Spott kassiert.
Von einem "häuslichen Scherz an einem Waschtag" war die Rede, von "herumwirbelnder Seifenlauge". Überhaupt hätte hier ein Besen über die Leinwand geschrubbt. Und heute? Bildet dieser unfassbare "Snow Storm" den fulminanten Schlusspunkt einer im Grunde unmöglichen Ausstellung.
Ein Deal mit "Tate Britain" macht die unmögliche Ausstellung im Lenbachhaus möglich
Die Tate Britain bewahrt den Nachlass Turners, und Leihgaben in größerem Stil sind nicht vorgesehen. Allerdings hat das Lenbachhaus begehrte Tauschware zu bieten: Ende April gehen wichtige Werke des "Blauen Reiter" nach London. Dieser Deal hat Kuratorin Karin Althaus in die komfortable Lage versetzt, sich aus einem Pool zu bedienen und Turners Entwicklung in ihren vielen Facetten und Innovationen zeigen zu können.
In drei Strängen: Im Kunstbau - und dafür ist der endlose Schlauch tatsächlich ideal - hängen sich "offizielle" und zu Lebzeiten nie ausgestellte Gemälde gegenüber, dazwischen erzählen Aquarelle, Zeichnungen und ganze Skizzenbücher von seiner Fabulierwerkstatt und wie teuflisch gut Turner mit dem Stift unterwegs war.
Wunderkind auf Reisen: Turner kann sich seine Eigenwilligkeit leisten
Er hat ja auch in einem fort gezeichnet und dabei keine noch so anstrengende Reise gescheut. Quer durch Frankreich, die Schweiz und Italien, hinauf in die Alpen, zur Walhalla bei Regensburg, durch Täler und Schluchten und immer wieder nach Venedig, wo sich die beklemmend-schweren Nebel seiner Heimat zu einem glitzernden Flirren aufschwingen. Nicht nur. Turner unterläuft in einer Tour Erwartungen, Konventionen, und Moden oder Gefälligkeiten interessieren ihn sowieso nicht.
Doch der Maler, der 1775 im Londoner Viertel Covent Garden als Sohn eines Barbiers zur Welt kam, kann sich diese Eigenwilligkeit leisten. Er verblüfft als Wunderkind und studiert bereits mit 14 Jahren an der Royal Academy. Selbstzweifel kommen gar nicht erst auf, der junge Mann, der sich mit Anfang zwanzig selbst porträtiert, ist gut gekleidet und blickt neugierig am Betrachter vorbei. Man könnte auch sagen: Wer etwas von ihm will, muss sich schon ins Zeug legen. Wenn Turner nicht verkaufen mag - und das ist oft der Fall -, verlangt er gesalzene Preise. Und dann geht es eben so oder so aus.

Der Maler will das Flüchtigste begreifen: Er lässt sich im Sturm an einen Masten binden
Beides ist für diesen manischen Maler in Ordnung, er hat schließlich ganz andere Interessen und will das Wetter und damit das Flüchtigste zu fassen bekommen. Er spürt ihm förmlich nach, lässt sich während eines Schneesturms an den Mast eines Schiffes binden, um wirklich alles zu sehen und zu durchleben - das führt zum eingangs erwähnten "Snow Storm", bei dem er die Leinwand "stürmisch" traktiert, die Farbe spachtelt, mit den Fingern nachhilft. Und womöglich hat er bei diesen verrückten Abenteuern den einen oder anderen Albtraum mit in den Schlaf genommen.
Es gibt in diesem Œuvre verstörende Szenarien, die Turner nicht ohne Grund bei sich behält. Dazu gehört das Empfangszimmer eines Mäzens auf East Cowes Castle (1830), in das gewaltige Wassermassen hereinbrechen, wie bei einem sinkenden Dampfer. Oder sind es doch Lichtfluten, die sich in einer gleißend pastosen Materie manifestieren?
Hochaktuelle Kunst: Turner demonstriert die Machtlosigkeit des Menschen
Der Mensch ist machtlos, das demonstrieren nicht nur die Gewitter auf hoher See, sondern genauso die Schneeballungen in den Bergen. Beim "Niedergang einer Lawine in Graubünden" (1810) schiebt sich die weiße Wucht, die eben eine Hütte unter sich begräbt, wie ein ungebügeltes Leichentuch über die Landschaft.

Solche Bilder sind hochaktuell, Turner ist auch im 21. Jahrhundert der Künstler der Stunde. Schon zu Lebzeiten hat er durch ein "unverkennbares Zuweitgehen" imponiert, wie Theodor Fontane es 1857, sechs Jahre nach dem Tod Turners, als London-Korrespondent für das "Deutsche Kunstblatt" kommentiert.
Der Künstler kann auch anders: Ähnlichkeiten mit Caspar David Friedrich und Claude Lorrain
Der Maler konnte aber auch anders, sonst hätte sich sein sagenhafter Erfolg kaum eingestellt. Turner brachte es immerhin zum reichsten Künstler der Nation und erhielt früh an der Akademie eine Professur für Perspektive. Und natürlich sind es am Anfang die zarten Weiher, die Flusslandschaften, die Stadtansichten, Schlösser oder die zauberhaft stillen Sonnenuntergänge und auch das "Mondlicht", das wie ein hellgelber Punkt aus dem romantisch-violetten Dunkel einer Seestudie bei Millbank herausleuchtet. Unwillkürlich muss man an Caspar David Friedrich denken.
Und wie sein großes Vorbild Claude Lorrain verfrachtet Turner mythologische Szenen in seine Gemälde. Das gehört in dieser historienfixierten Zeit dazu und wird freilich schnell zum Vorwand degradiert, sich in die nächste Landschaft zu vertiefen: in den Himmel, die Wolken, den Nebel und die Bewegung der Luftmassen und besonders das Licht, das nur dann so richtig zur Wirkung kommt, wenn man nicht mehr an den Konturen festhält und die Dinge im Ungefähren lässt.
In diesem konsequenten Vorgehen überfordert Turner sein Publikum, das ihm am Ende seines Lebens nicht mehr folgen will. Dass die Welt in Auflösung begriffen ist, muss man auch erst realisieren. Und vor allem aushalten.
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