"Berlinde De Bruyckere: City of Refuge II": Verdeckte Mysterien im Diözesanmuseum Freising
Sie hat die Ruhe weg. Es kommt sowieso, wie es kommen soll, und das hat nichts mit Nachlässigkeit zu tun. Wenn Berlinde De Bruyckere ans Werk geht, zählt jedes noch so kleine Detail. Doch man dürfe eben auch nichts erzwingen, sagt sie, schon gar nicht gegen die Natur. Als die Künstlerin vor über zehn Jahren in einem Tal in Südfrankreich plötzlich vor einem mächtigen Baumstamm zu stehen kam, hat dieses Trumm sofort ihre Neugier geweckt. Wenn das Holz in ein, zwei Jahren noch da liegt, soll es so sein, dachte sie sich. Dann ist dieser gefallene Riese mit seiner rauen Rinde für die Kunst bestimmt.
Berlinde De Bruyckere: 2013 repräsentierte sie Belgien auf der Biennale
So kam es dann auch. Und was am Ende daraus entstand, war imposant und berührend zugleich, außergewöhnlich und so anziehend, dass viele Besucher minutenlang gebannt innehielten – 2013 im Belgischen Pavillon auf der Biennale von Venedig. Wie ein Leichnam lag dort dieser massive und doch fragile Baum, begleitet von verdorrten Ästen, die an verschiedenen Stellen mit alten Stoffbahnen verbunden und durch Kissen abgestützt waren.

Sah man sich einer geschundenen Kreatur gegenüber, die ihr Leben aushaucht? Oder einer Verwesung, aus der sich wie durch eine wundersame Verwandlung wieder etwas zu regen beginnt? De Bruyckere hat mit dieser 17 Meter langen Monumentalinstallation ein Meisterwerk geschaffen. Eine reduzierte Version ist nun im Diözesanmuseum in Freising zu sehen und spielt - wie "Cripple Wood" in Venedig - auf das Martyrium des heiligen Sebastian an: Der von Pfeilen durchbohrte römische Soldat verwächst mit dem Baum, an den er gefesselt wurde.
Ein Wechselspiel zwischen christlicher Ikonographie und antiker Mythologie
Doch der Todeskampf ist freilich nur eine von vielen Lesarten, in dieser Kunst gibt es immer mehrere Schichten. Und das meistens im doppelten Wortsinn, wenn De Bruyckere etwa zerschlissene Teppiche oder Tierhäute aufeinanderlegt, um ein Totenbett einzurichten oder einen zusammengebrochenen Engel zu verhüllen.

Eindeutig ist nur das Existenzielle, an das die flämische Bildhauerin mit jeder ihrer Arbeiten rührt. Und dafür ist der Domberg der ideale Ort. Zumal sich die 58-Jährige ganz selbstverständlich zwischen christlicher Ikonographie und antiker Mythologie bewegt. "Warum denn nicht?", wirft sie ein, "in Gent bin ich mit der Kirche aufgewachsen, ihre Bilder haben sich eingeprägt". Und nun bieten sie neben Ovids "Metamorphosen" eine nie versiegende Quelle der Inspiration.
De Bruyckeres Figuren haben kein Gesicht
Auf der anderen Seite muss man weder Dornenkronen noch den Typus der Pietà kennen, um von diesem Œuvre angeregt zu werden. Auch die heilsgeschichtliche ist nur eine von vielen Ebenen. Das bringt der zur Wiedereröffnung des Hauses für den Lichthof erworbene "Arcangelo" zum Ausdruck. Der Habitus eines göttlichen Boten geht ihm völlig ab, vielmehr steht er kraftlos gebeugt mit verdecktem Oberkörper auf seinem Sockel - womöglich aufgerieben von einer Welt, in der er nichts mehr ausrichten kann.
Das ist bei den bewusst gesichtslosen Figuren De Bruyckeres allenfalls zu ahnen. Und tatsächlich kam ihr die Idee zum "Erzengel" während des ersten Covid-Lockdowns, also zu einer Zeit, als das Virus übermächtig schien, viele Menschen isoliert und einsam sterben mussten - und in den Krankenhäusern unzählige Pflegekräfte bis zur Erschöpfung halfen. Engel eben. Der "Liggende - Arcangelo III", den die Künstlerin nun als Pendant für die neue Freisinger Schau gestaltet hat, ist unter dieser gigantischen Last zusammengebrochen.

Museumsgebäude diente im Zweiten Weltkrieg als Lazarett
Unter beträchtlichen Schichtungen aus Stoffüberwürfen, Häuten und Tierhaar ragen zwei wächserne Beine heraus. Ist diesem Wesen überhaupt wieder auf die Füße zu helfen? Wenn man so will, gibt es kein besseres Sinnbild für den Kollaps eines Gesundheits- und damit auch Gemeinwesens. Fern von jedem Sozialkitsch und moralisierenden Gesten. Und schließlich spenden Decken Wärme und Schutz: Neugeborenen etwa und Sterbenden, Flüchtenden, denen sie zum lebensbewahrenden Gehäuse werden. Nicht zuletzt deshalb trägt diese von Petra Giloy-Hirtz kuratierte Ausstellung den Titel "City of Refuge".
Das passt auch zur Geschichte des Museumsgebäudes, das von 1939 bis 1945 als Lazarett für Kriegsgefangene und nach der Befreiung als Hospital für KZ-Häftlinge diente. Genaugenommen sind aber auch die Werke Berlinde De Bruyckeres Zufluchten, sogar Schutzräume wie der in der nahen Johanneskapelle einbeschriebene Hortus conclusus "It almost seemed a Lilly" aus Holznischen und Tapisserien. Dabei könnte es einen oft genug schaudern, zumal die leichenblassen, aus Wachs und Silikon geformten Leiber an medizinhistorische Kabinette und an Deformationen erinnern. Das ist das Gegenteil jeder Instagram-tauglichen Körperperfektion.
Im ewigen Zyklus ist nichts abgeschlossen
Die Haut ist für die Künstlerin der Mantel der Seele. Deshalb zeigt sie ganz selbstverständlich Verletzungen, die Teil der menschlichen Existenz sind und nach Heilung rufen. Dualität ist immer mitgedacht: Zum Sein gehört das Vergehen, aus dem wieder neues Leben entstehen kann. Und aus der Verzweiflung keimt die Hoffnung. Nichts ist abgeschlossen in diesem ewigen Zyklus. Und was spricht dagegen, in einer Sense, die in De Bruyckeres Papierarbeiten zuweilen auftaucht, einen Flügel zu sehen, der in die Lüfte hebt. Einen Engelsflügel natürlich.
"Berlinde De Bruyckere: City of Refuge II" bis 17. September, Diözesanmuseum Freising, Di bis So, 10 - 18 Uhr, www.dimu-freising.de
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