Ai Weiwei mit "In Search of Humanity" in Wien: Mao und der Stinkefinger

Die Albertina Modern am Wiener Karlsplatz beschert dem chinesischen Kunststar Ai Weiwei eine fulminante Schau, die sein Werk in sämtlichen Facetten vorführt.
von  Christa Sigg
Das fast vier Meter breite Werk "Illumination" von 2019 zeigt Ai Weiwei bei der Verhaftung vier Jahre zuvor. Die Arbeit setzt sich aus Lego-Bausteinen zusammen, wie mittlerweile vieles in Ai Weiweis Werk.
Das fast vier Meter breite Werk "Illumination" von 2019 zeigt Ai Weiwei bei der Verhaftung vier Jahre zuvor. Die Arbeit setzt sich aus Lego-Bausteinen zusammen, wie mittlerweile vieles in Ai Weiweis Werk. © Courtesy of the artist and Lisson Gallery © 2022 Ai Weiwei

Am Anfang war das F-Wort. In Ai Weiwei sitzt nicht nur der ständige Widerspruch, sondern genauso dieses "Ihr könnt mich mal kreuzweise". Freundlich ausgedrückt. 

Ai Weiwei ätzt nach allen Seiten

Wo er Verwerfungen oder Ungerechtigkeit sieht, kritisiert er harsch und rührt dabei oft genug in den Wunden der Gesellschaft. Oder an der Achillessehne einer autoritären Obrigkeit. Das hat ihm in seiner Heimat China Verfolgung und Gefängnis eingebracht. Und selbst im Westen, wo er lange euphorische gefeiert wurde, mehren sich die genervten Stimmen.

Ai ätzt nach allen Seiten, auch da, wo ihm bereitwillig Asyl gewährt wird. Andererseits wäre er nicht glaubhaft und eben nicht Ai Weiwei, würde er die "Sicherheitszonen" aussparen. 

Ai Weiwei: Radikale Abscheu gegenüber dem Staatsapparat hat seinen Grund

Und so gab es zum Auftakt seiner Superschau "In Search of Humanity" in der erst vor zwei Jahren eröffneten Albertina Modern natürlich Dresche auf ein "scheinheiliges Europa", das zwischen Flüchtlingen aus Syrien und der Ukraine einen schwerlich zu übersehenden Unterschied macht. Nur tut das in Wien so wenig weh wie das "FUCK", das nun quer durch den zentralen ersten Raum leuchtet. Und selbst der Stinkefinger kann keinen mehr schocken.

Zu provozieren ist überhaupt schwierig geworden. 1995 war der erhobene Mittelfinger am Platz des Himmlischen Friedens freilich eine riskante Sache und ein "hart erkämpftes Manifest aus dem Stegreif", wie Ai in seinen Erinnerungen "Tausend Jahre Freud und Leid" schreibt. Die radikale Abscheu gegenüber dem Staatsapparat ist bekanntlich nicht ohne Grund. Sein Vater Ai Qing, der zu den bedeutendsten Lyrikern Chinas zählt, galt Mao Zendongs Kulturrevolutionären als verräterischer Abweichler. Deshalb wurde er 1958 mitsamt der Familie verbannt und musste unter kläglichsten Bedingungen in einem Lager der Provinz Xinjiang die Latrinen reinigen. 

Ai Weiwei: Sein Vater wird erst nach dem Tod Maos rehabilitiert 

Gehaust hat man in einem Erdloch. Und in seiner Autobiografie führt Ai Weiwei die eigene erstaunliche Furchtlosigkeit auf ein Trauma aus diesen Jahren zurück. Er musste seinem Vater beim Verbrennen der geliebten Bücher helfen, und er schreibt: "In dem Moment, als sie zu Asche wurden, erfasste mich eine seltsame Kraft…, die selbst der stärkste Gegner als einschüchternd empfinden sollte."

Erst nach dem Tod Maos 1976 kommt die Rehabilitierung des Vaters, und zwei Jahre später kann Ai Weiwei auch schon an der Filmakademie in Peking studieren. Doch die Demütigungen sitzen tief, Ai bleibt auf Distanz, wechselt 1981 nach New York, und mit Street-Fotografien aus jener Zeit beginnt dann auch die mit 140 Objekten wahrscheinlich größte Retrospektive dieses omnipräsenten Starkünstlers. Die Bilder zeigen einen suchenden jungen Kerl, der in das Leben der US-Metropole eintaucht, staunt, genau beobachtet, sich eine Art visuelles Tagebuch zusammenknipst und dabei ein Faible für Straßenabsperrungen, Polizeikontrollen und Verhaftungen entwickelt.

Kunst ist Leben und mehr noch Haltung

In dieser Phase der Orientierung - Ai geht auf die 30 zu - experimentiert er mit der künftig für ihn bestimmenden Konzeptkunst, mit dem Minimalismus, Dada, mit der Pop Art Andy Warhols, und er kreiert Readymades à la Marcel Duchamp.

Das sind zum Teil köstliche Verballhornungen von zusammengefügten Schuhen - treibt es da die Geige mit den zum Korsett zusammengeschnürten Boots? Zudem arbeitet sich Ai ausgiebig an Mao ab. Das reicht vom Triptychon, an dem die Farben herunterrinnen wie mit Beuteln beworfen, bis zum fotorealistischen Plakatkonterfei, bei dem er billiges Wellblech als Malgrund vortäuscht. So, als müsse er den bösen Geist der Vergangenheit bannen.

Kunst ist Leben und mehr noch Haltung. Das wird in den New Yorker Jahren zum Credo dieses Künstlers, für den die handwerklich minuziöse, teils sehr ästhetische Ausarbeitung als eine Art Markenzeichen mit dazugehört. Das behagt den Sammlern, während er zugleich auch die Frage nach dem Wert stellt. Was ist kostbar? Und zu welcher Zeit? Jeder kennt die Fotografien, auf denen Ai Weiwei 1995 eine Urne aus der Han Dynastie fallen lässt - damals Massenware - und damit beim Betrachter bis heute ein klammes Gefühl verursacht.

Dekonstruktion zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ais Schaffen

Dieses subversive Berserkern geht einher mit den fast schon ikonischen Coca-Cola-Vasen, die immer auch die Zerstörungen der jahrtausendealten chinesischen Kultur durch die Kommunisten sowie das planmäßige Ausradieren und später das Vergessen der ausgetüftelten Handwerkskunst durch die kapitalistische Massenproduktion reflektieren.

Die Dekonstruktion zieht sich fortan wie ein Leitmotiv durch Ais Schaffen. Das kann zum kunstvollen Arrangieren traditioneller Hocker führen, zum Zerteilen von Möbeln oder Fahrrädern sowie dem erneuten Zusammenfügen ohne jeden Nutzwert und schließlich zum Mahnmal aus unzähligen - schmerzvoll - gekrümmten Eisenstäben: Sie verweisen auf die mangelhafte Bauweise einer Schule, unter deren Trümmern nach dem schweren Erdbeben 2008 in Sichuan massenhaft Kinder den Tod fanden.

Ai Weiwei ist in seiner "Suche nach Menschlichkeit" auch ein großer Selbstdarsteller 

Die Tragödien gehen dem 64-jährigen Aktivisten nicht aus, und er hat zu allem einen Kommentar. Da ist das verrostete Metalltor aus Syrien mit riesigen Einschusslöchern. Da sind Rettungsringe und -westen, die auf den Überlebenskampf im Mittelmeer deuten, und da ist der kleine Junge, der tot am Strand liegt und den Ai Weiwei in Lego-Steinchen "gepixelt" nachstellt. Spätestens da wird es fragwürdig und übertrifft noch die Selbststilisierung mit der Installation "S.A.C.R.E.D." (2013).

Das Großprojekt aus sechs Dioramen schildert Ais 80-tägigen Gefängnisaufenthalt 2011 mit grauenhaft zermürbender 24-Stundenüberwachung. Dass die Arbeit 2013 in Venedig während der Biennale in der Kirche Sant'Antonin zu sehen war, hat sie in die Nähe christlicher Martyrien und der Passion gerückt, der Titel kommt ja nicht von ungefähr. Und das ist bei aller Bewunderung für dieses Engagement doch der schwer erträgliche Tick zu viel. Aber Ai Weiwei ist in seiner "Suche nach Menschlichkeit" eben auch ein großer Selbstdarsteller und so gar nicht frei von Eitelkeit.


"Ai Weiwei. In Search of Humanity” bis 4. September 2022 in der Albertina Modern, Karlsplatz 5, Wien, Katalog 39,90 Euro über www.albertina.at

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.