Kultureller Jahresrückblick: Vorhang zu, aber viele Fragen offen

München - Die Staatsoper brachte am 8. März noch Giuseppe Verdis Oper "I masnadieri" heraus. Danach ging es sehr schnell: Das Ballett tanzte noch einmal im Nationaltheater, die Wiener Philharmoniker beendeten vorzeitig ihren Beethoven-Zyklus im Gasteig. Dann wurden die Bayreuther Festspiele und die Oberammergauer Passion abgesagt. Seitdem ist der Vorhang nie wieder wirklich hochgegangen, auch wenn im Frühsommer und Herbst Vorstellungen und Konzerte unter eingeschränkten Bedingungen stattgefunden haben.
Zwei Lockdowns waren für Künstler eine Katastrophe
Der erste und zweite Lockdown war für alle Künstler, die von Auftritten vor Publikum leben, eine Katastrophe. Die staatlichen und städtischen Theater, Opernhäuser und Orchester sind bisher mit einem blauen Auge davongekommen. Da kommen die roten Zahlen und Kürzungen erst noch. Für alle freiberuflichen Musiker, Schauspieler, Kabarettisten und Bands sind sie schon jetzt Alltag - sie leben von Ersparnissen, brauchen ihre Altersvorsorge auf oder denken über einen Branchenwechsel nach.
Die wenigsten Künstler sind fest engagiert. Die Mehrzahl arbeitet freiberuflich, zum Teil in mehreren Jobs. Die sind teilweise komplett weggebrochen. Ein breiter aufgestellter Komponist, der nebenbei noch an der Volkshochschule unterrichtet, dirigiert und einen Chor leitet, hat gleich eine mehrfache - Verzeihung! - Arschkarte gezogen, weil seine an sich kluge Diversifizierung im Lockdown bis auf ein paar miserabel bezahlte Unterrichtsstunden per Video nicht mehr funktioniert.
Corona-Hilfen: Große Versprechungen durch die Politik
Die Politik reagierte auf dieses faktische Berufsverbot für große Teile der Kreativwirtschaft mit großen Ankündigungen und leeren Versprechungen. Es dauerte Monate, bis maximal dreimal 1.000 Euro für den ersten Lockdown beantragt werden konnten. Das im Oktober von Markus Söder angekündigte zweite Soloselbstständigenprogramm für freischaffende Künstlerinnen und Künstler sowie Angehörige kulturnaher Berufe lief wegen viel Abstimmungsbedarf im Detail erst kurz vor Weihnachten an. Geld soll laut dem Ministerpräsidenten bis zum Ende der Pandemie fließen. Derzeit sind allerdings nur rückwirkend Anträge für die Monate Oktober bis Dezember möglich. Und man wird den Eindruck nicht los, dass es sich in erster Linie um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Steuerberater handelt.
Im Sommer gab es für darstellenden Künstler Auftrittsmöglichkeiten an der frischen Luft. Christian Stückl bespielte den Innenhof des Volkstheaters, Kabarett und Kleinkunst fanden ein Forum bei Till Hofmanns Eulenspiegel Flying Circus im Innenhof des Deutschen Museums, Bands konnten beim städtischen Wiesn-Ersatz "Sommer in der Stadt" auftreten oder im Innenhof vom Deutschen Theater. Eine vom Kunstministerium angestoßene Konzertreihe im Brunnenhof scheint primär Veranstaltungstechniker gefördert zu haben. Die darben zwar auch, aber inszeniert wurde das Ganze vom Ministerium als generöse Hilfe für Musiker.
Kunstminister Bernd Sibler dringt im Kabinett nicht durch
Kunstminister Bernd Sibler ist guter Wille keineswegs abzusprechen. Er redet viel mit den Betroffenen und kaperte Ende Oktober als Schlussredner eine Demonstration am Königsplatz. Aber er dringt im Kabinett nicht durch. Auch sein Ministerium erweckt gelegentlich den Eindruck einer Schönwetterveranstaltung. Das sorgte für wachsende Kritik bei der Landtagsopposition aus Grünen, SPD und FDP. Hier setzen sich vor allem Sanne Kurz (Grüne), Volkmar Halbleib (SPD) und der ehemalige Kunstminister Wolfgang Heubisch (FDP) stark für die Freiberufler ein, aber ihre Anträge werden in der Regel von der Mehrheit aus CSU und Freien Wählern abgeschmettert.

Die Pandemie versaute Mathias Lilienthals Abschied von den Kammerspielen und die erste Spielzeit von Andreas Beck am Residenztheater. Auch das große Finale von Nikolaus Bachler an der Staatsoper nimmt Schaden: Mahlers monumentale Achte unter Kirill Petrenko fiel der Pandemie ebenso zum Opfer wie die Uraufführung von Luca Francesconis "Timon of Athens" unter Kent Nagano. Die Bayreuther Festspiele fielen ganz aus. Der neue "Ring des Nibelungen" wurde auf 2022 verschoben. Die Salzburger Festspiele sorgten mit Symphoniekonzerten und Oper vor maximal 1.000 Besuchern für ein Stück Normalität.
Oper und Theater per Streaming verfügbar: Schwacher Ersatz
Am 1. September kam dann an der Bayerischen Staatsoper das eigentlich für Karsamstag geplante Callas-Projekt von und mit Marina Abramoviæ heraus - vor 250 Zuschauern. Im Herbst durften im Rahmen eines Pilotprojekts teilweise 500 Besucher ins Nationaltheater und den Gasteig. Das Gärtnerplatztheater zeigte "Eugen Onegin" mit leicht reduzierter Orchesterbesetzung, zuletzt sahen am 31. Oktober noch 50 Besucher die Premiere von Walter Braunfels' Oper "Die Vögel" im Nationaltheater.

Dann war wieder Schluss. Seitdem wird mehr oder weniger eifrig gestreamt. Die Staatsoper nutzte hier ihre Erfahrung mit Übertragungen von Vorstellungen ins Internet. Das gelungenste Format sind die Montagskonzerte aus dem Nationaltheater, die übrigen Theater und Orchester zogen mehr oder weniger eifrig nach. Aber das Streaming bleibt ein Surrogat wie Malzkaffee oder Kunsthonig, weil soziale Künste Oper, Theater und Konzerte vom sichtbaren Schweiß, dem realen Schalldruck und der Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum leben.
Die in Künstlerkreisen verbreitete Befürchtung, das Publikum würde von Aufführungen entwöhnt und nach dem zweiten Lockdown überhaupt fernbleiben, scheint massiv übertrieben. Tatsächlich waren zwar in der Phase des Pilotprojekts manchmal nicht alle Plätze im Gasteig besetzt. Aber das hat vor allem mit dem Durcheinander ständig wechselnder Regelungen zu tun, und Karten verkaufen sich nicht automatisch innerhalb von ein, zwei Tagen von selbst.
Subventierter Kulturbetrieb wird Pandemie überleben
Wie es im neuen Jahr weitergeht, lässt sich nicht vorhersehen. Ein halbwegs geregelter Spielbetrieb dürfte erst im Frühjahr möglich werden, wenn nicht noch später. Hoffentlich liest die Politik bis dahin die Studien und Hygienekonzepte, die sie selbst in Auftrag gegeben hat. Der subventionierte Kulturbetrieb wird die Pandemie überleben. Bei den privaten Veranstaltern sind Pleiten und Fusionen zu befürchten. Auf Dauer schwierig bleibt vom Jazz bis zu den Musicals alles, was primär über Kartenverkäufe finanziert wird. Unterhalb einer möglichen Platzauslastung von 70 Prozent lohnt sich da gar nichts. Popkonzerte mit tanzenden Fans in der Arena scheinen überhaupt erst wieder verantwortbar, wenn eine Herdenimmunität erreicht ist.
Manch einer begrüßt das als willkommene Entschleunigung und Abkühlung eines überhitzten Betriebs. Aber fehlende Einnahmen werden auf Dauer zu sinkenden Gagen führen. Die Lage bleibt also, auch angesichts des Desinteresses vieler Politiker schwierig. Hilfreich wäre es auch, wenn sich freiberufliche Künstler stärker organisieren würden und entgangene Einkünfte einklagen würden, statt sich zu Hobbyvirologen und -verfassungsrechtlern weiterzubilden.