Kulturelle Aneignung: Erst nachdenken, dann aufregen

Im schweizerischen Bern wurde vergangene Woche ein Konzert abgebrochen. Einige der weißen Musiker trugen Dreadlocks und spielten Reggae. Daraufhin seien laut Presseberichten Besucher auf den Veranstalter zugekommen, weil sie sich wegen des Auftritts unwohl fühlten, heißt es. Das Konzert der örtlichen Mundartband Lauwarm wurde daraufhin beendet - in beiderseitigem Einvernehmen.
Lauwarm-Konzert wurde abgebrochen
Der Vorfall machte schnell die Runde und löste - wieder einmal - eine Debatte über die sogenannte "kulturelle Aneignung" aus. Die im Kulturkampf gegen die aus den USA importierte Wokeness stark engagierte "Neue Zürcher Zeitung" brachte dazu einen langen Kommentar, der auch in Deutschland viel gelesen und auf sozialen Medien geteilt wurde. Schon im März tobte eine ähnliche Debatte, nachdem die Sängerin Ronja Maltzahn von der Klimaschutzbewegung Fridays for Future erst zu einer Demo eingeladen und dann wegen ihrer Rastalocken wieder ausgeladen wurde.
Christian Ude: Ohne "kulturelle Aneignung" keinen Jazz in Europa
Am Samstag schaltete sich auch noch Christian Ude auf Facebook in die Debatte ein. Seiner Ansicht nach gäbe es ohne "kulturelle Aneignung" keinen Jazz in Europa. Ude antwortete auf einen Post des Sängers und SPD-Stadtrats Roland Hefter, der sich ebenso dafür ausspricht, dass es "kulturelle Aneignung" geben müsse. Nur so könne man mit Kultur, die Welt und das Verständnis und die Freundschaft von Menschen aus verschiedenen Kulturen voranbringen.

Roland Hefter: "Freu' mich über jeden Afrikaner oder Chinesen in Lederhose"
"Europäische Bands spielen Reggae und Country, arabische Musiker spielen Beethoven und Mozart und am besten alle miteinander - und das ist gut so!", schreibt Hefter. "Ich freu' mich über jeden Afrikaner oder Chinesen in Lederhose und Dirndl und jeden Jugendlichen, egal wo er herkommt, wenn er Dreadlocks und Rastalocken trägt, wenn es ihm gefällt."

Ude setzte auf Facebook noch den unvermeidlichen Maximalvergleich jeder ordentlichen Debatte drauf: Vom Verbot des Jazz hätten in seiner Jugend die alten Nazis geträumt. Nur die Spießer von der "Sauberen Leinwand" seien ähnlich sittenstreng und verbotsfreudig wie heute die Sittenwächter der woken Generation. Und auch die unvermeidliche Behauptung eines Sprechverbots darf nicht fehlen: "Immerhin durfte man damals aber noch unbeanstandet aussprechen, dass es überhaupt Männer und Frauen gibt."
Damit erreicht Ude einen Punkt in der Debatte, an dem es etwas billig wird. Gerade Leuten, die sich für links und weltoffen halten, stünde es gut an, nicht gleich "Zensur!" und "Neue Nazis!" zu brüllen, sondern anzuhören, was Schwarze Deutsche und People of Color an der Aneignung von Rastalocken durch die weiße Mehrheitsgesellschaft stört. Danach kann man sich ja immer noch aufregen.
Die Debatte ist nicht neu
Zuerst einmal: Die Debatte ist nicht ganz neu. Es gibt sie mindestens seit 1978, als Bo Derek im Film "Die Traumfrau" mit Muscheln im Haar auftrat. Diese Anspielung auf eine afrikanische Figur galt als schick, gleichzeitig klagte eine schwarze Frau gegen eine US-Fluggesellschaft, weil ihr wegen einer Flechtfrisur gekündigt wurde.
Kritiker kultureller Aneignung stört der potenziell rassistische Doppelstandard: Die Mehrheitsgesellschaft verwandelt die angeeigneten Bestandteile kultureller Identität in eine Ware und trivialisiert sie. Das sei vor allem dann der Fall, wenn angeeignete Kulturelemente einer Minderheit angehören, die sozial, politisch, wirtschaftlich benachteiligt wird.
Es geht um Machtverhältnisse
Die Debatte dreht sich immer um Machtverhältnisse: Wer Rastalocken trägt, übernimmt die modische Geste, nicht aber die Diskriminierung, die Schwarze unweigerlich in einer weißen Mehrheitsgesellschaft trifft. Insofern weisen die Vertreter dieser Theorie auch den Vergleich mit von Weißen getragenen Kimonos zurück: Zwischen Europäern und Japanern herrsche ebensowenig ein Machtgefälle wie zwischen Italienern und Deutschen, weshalb es keine kulturelle Aneignung darstelle, zum Espresso eine Focaccia zu bestellen.
Weltläufige Linke verweisen bei derlei Debatten darauf, dass People of Color in dieser Sache auch nicht einig wären. Müssen Sie das?
Der apodiktische Furor mancher Rassismus-Debatten mag anstrengend sein. Aber nicht weniger irritierend ist das maximale Selbstvertrauen Indigener aus dem bayerischen Süden, die so tun, als bräuchten sie von nachträglich Reing'schmeckten keinen Nachhilfeunterricht in Toleranz, weil es in München nach ein paar Bieren so unglaublich liberal zuginge.
Mehr höfliche Rücksicht in einer multikultureller werdenden Gesellschaft
Tatsächlich würde einer multikultureller werdenden Gesellschaft etwas mehr höfliche Rücksicht gut anstehen. Die Blackfacing-Debatte an den Theatern hat letztendlich gezeigt, dass es nichts bringt, auf überlebten Traditionen zu bestehen, die auf Minderheiten verletzend wirken. Dafür ist aber mehr Dialog nötig.
Die Brasserie Lorraine in Bern ist sich übrigens nicht sicher, ob das mit dem Abbruch des Konzerts richtig war. Dieses basisdemokratisch organisierte Lokal versteht sich als eine Art "safe-space" für queere Personen aller Art. Die Betreiber haben für den 19. August zu einem Austausch eingeladen. "Die aktuelle Diskussion um Identitätspolitik und kulturelle Aneignung hat etwas sehr Destruktives", schreiben sie. "Uns geht es um die Zwischentöne."
Der nach allen Seiten selbstkritische Text auf ihrer Homepage macht es sich nicht so leicht wie der eine oder andere, der sich aus der Ferne in seine Rage hineinpostet.