Kultur mit einem Restrisiko?
Wegen der immer bedrohlicheren Corona-Ausbreitung rücken zusätzliche Alltagsbeschränkungen in den Blick. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn forderte vor anstehenden Bund-Länder-Beratungen ein schnelles Gegensteuern.
Spahn sprach sich dafür aus, für öffentliche Veranstaltungen das Prinzip 2G plus einzuführen - also Zugang nur für Geimpfte und Genesene, die zusätzlich aber noch einen aktuellen Test vorweisen müssen. Die bisher von Bund und Ländern vereinbarte 3G-Regel mit Zugang für Geimpfte, Genesene und Getestete werde alleine nicht mehr reichen. Dies werde außerdem zu oft nicht kontrolliert, so dass eigentlich "0G" gelte.
Das Robert Koch-Institut rief alle Bürger wegen dramatisch steigender Infektionszahlen zu weniger Kontakten auf und rät auch zu Einschränkungen besonders bei Großveranstaltungen. RKI-Präsident Lothar Wieler warnte: "Es ist fünf nach zwölf."
Die Konzert- und Veranstaltungswirtschaft reagierte darauf mit Unverständnis. "Mehr als die 2G-Beschränkung ist doch derzeit gar nicht möglich", sagte Jens Michow, Präsident des Bundesverbandes der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft. Da es eine 100-prozentige Durchimpfung wohl nie geben wird, werde immer in allen öffentlichen Räumen ein Restrisiko bleiben. "Daher werden wir auch immer mit dem Restrisiko leben müssen, dass auch Geimpfte noch infektiös sein können."
"Natürlich ist auch uns an allererster Stelle am Infektionsschutz unserer Besucher gelegen", sagte Michow. Aber die Konzert- und Veranstaltungswirtschaft habe sich soeben auf die Umsetzung des 2G-Modells konzentriert und Veranstaltungen nur noch unter 2G geplant. "Wir sind imstande, die Einhaltung dieser Regel ausnahmslos sicherzustellen. Dass nun auch das 2G-Modell wieder nicht ausreichen soll, ist für uns schwer nachvollziehbar", sagte der Verbandspräsident. Notfalls könne die Branche auch mit 2G Plus leben, das heißt, die Geimpften und Genesenen müssten zusätzlich noch ein negatives Schnelltestergebnis vorlegen.
"Die Veranstaltungsbranche hatte gehofft, endlich weniger von staatlichen Hilfen abhängig zu sein", sagte Michow. "Aber wenn wir größere Veranstaltungen jetzt wieder absagen müssen, ist es umso erforderlicher, dass die Überbrückungshilfe 3 mindestens bis Ende Juni und dann auch noch in erweitertem Umfang verlängert wird."
Hilfreich wäre es, bei Großveranstaltungen stärker zu differenzieren. Vor der Isarphilharmonie und in anderen städtischen und staatlichen Spielstätten in München werden Impfnachweise konsequent kontrolliert. Die Säle sind außerdem gut belüftet. Dass Theater- und Konzertbesuche ungefährlich sind, wurde auch in vom Staat beauftragten wissenschaftlichen Studien mehrfach nachgewiesen.
Allerdings gibt es hinter der Bühne immer wieder Corona-Fälle. Inwieweit sie auf Ungeimpfte zurückzuführen sind, ist aus Gründen des Datenschutzes nicht bekannt. Die Staatsoper spielt nach einer Woche Corona-Pause seit dem heutigen Samstag wieder. Aber auch Veranstalter selbst sagen bereits wieder ab.
So hat sich der Münchner Motettenchor entschieden, seine für 21. November geplante Aufführung von Mozarts "Requiem" abzusagen. Angesichts "der dramatisch steigenden Inzidenzwerte, der mittlerweile roten bayerischen Krankenhaus-Ampel und der steigenden Mortalitätsraten" sei es "schwer verantwortbar", ein Konzert "in diesen Zeiten und in diesem Umfang abzuhalten".
Das klingt ein wenig, als sei es frivol, am Totensonntag Mozarts "Requiem" aufzuführen. Entscheidungen dieser Art sind im Moment eine Gratwanderung. Und ein Laienchor wie der Motettenchor spielt unter anderen Bedingungen als staatliche und städtische Kulturbetriebe.
Absagen dieser Art haben trotzdem den unguten Charme von Selbstabschaffung. Sie liefern leichtfertig eine Steilvorlage für alle Übervorsichtigen in Politik und Verwaltung, die neue, undifferenzierte Schließungen im Kulturbereich anpeilen. Gemeinschaftlich erlebte Kultur hat in schwierigen Zeiten auch eine tröstende Funktion, die nicht zu unterschätzen ist.
2G Plus mag lästig und für Geimpfte angesichts der vielen Impfverweigerer auch ärgerlich sein. Aber Masken und Tests wären eine Chance, den Kulturbetrieb aufrechtzuerhalten und die vielen Freiberuflern nicht wieder von unendlich bürokratischen Soforthilfen abhängig zu machen.