Künstliche Beleuchtung

Das Phantom ist zurück: Thomas Pynchon stellt in seinem neuen Roman „Gegen den Tag“ seine Belesenheit, seinen Erfindungsreichtum, seinen Irrwitz unter Beweis. Dennoch findet sich auf keiner Seite ein Satz, den man sich gerne merken würde.
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Das Phantom ist zurück: Thomas Pynchon stellt in seinem neuen Roman „Gegen den Tag“ seine Belesenheit, seinen Erfindungsreichtum, seinen Irrwitz unter Beweis. Dennoch findet sich auf keiner Seite ein Satz, den man sich gerne merken würde.

Stolze 1600 Seiten hat der Roman. Was natürlich entschieden zu viel ist. Schon allein für die Handhabung. Und eine technische Sichtweise ist bei Thomas Pynchon, diesem von Apparaten aller Art verzauberten Schriftstellerphantom, angebracht. Schnell stellt sich ein postmodernes Gefühl ein: Das Schaudern angesichts rasenden Stillstands. Es geht in „Gegen den Tag“ um Luftschiffer und Anarchisten, Privatdetektive, Fotografen, Tüftler, Techniker, Mathematiker, russische Nihilisten, Schamanen, lesende Hunde, sprechende Blitze. Von allem zu viel.

Der Roman spielt an der Wende zum 20. Jahrhundert. Es knistert oft vor Elektrizität, aber selten vor Spannung. Das Buch glüht von innen in einem seltsam fahlen Licht. Der Kristallstein Islandspat, nach dem ein Kapitel benannt ist, schafft so ein gelbliches Leuchten. Durch Islandspat betrachtet wird jedes Bild verdoppelt, es entsteht ein zweites, ein Geisterbild. Diese leicht verschwommene doppelte Perspektive liebt Pynchon. Und künstliche Beleuchtung aller Art. Sein Roman, der mit der Landung des riesigen Luftschiffs „Inconvenience“ 1893 auf der Weltausstellung in Chicago beginnt, und nach dem ersten Weltkrieg mit einem zur Kleinstadtgröße angewachsenen Luftschiff, das in den Weltraum aufbricht, endet, ist vielfältig erleuchtet. Oft lässt Pynchon „Nernstlampen“ glimmen – die wurden 1897 von Walther Nernst in Göttingen erfunden und leuchten gelblich. Dazu flackern auch „Auerlampen“ auf, „Naphtalampen“, „Gas-Glühlichtlampen“, „Gas- und Sturmlaternen“, „Signallampen“ – und natürlich strahlen auch jede Menge Suchscheinwerfer. Es gibt Mord und Totschlag und überhaupt eine Menge Action, aber mitreißend ist das selten. Denn wo alles möglich passieren kann, passiert eben alles mögliche. Man nimmt’s mit einem Schulterzucken zur Kenntnis – ahnend, dass das möglicherweise nicht ganz die angemessene Reaktion auf ein Werk von weltliterarischem Rang ist.

Der 70-jährige Thomas Pynchon hat bereits mit Romanen wie „V“ (1963) „Gravity’s Rainbow“ (1973), „Vineland“ (1990) oder „Mason & Dixon“ (1997) episodenreiche und schwer verschachtelte Mammutwerke geschaffen – die große Komplikation für den Literaturmarkt. Gut passt es da, dass er sich als der große Geheimnisvolle des Betriebs inszeniert. Er gibt keine Interviews, lässt sich nicht fotografieren, und hat sich eine Aura wie J.D. Salinger geschaffen.

Aber anders als der sucht Pynchon keine Wahrheit in Worten. Sein Schreiben ist Mimikry, Aneignung, Parodie, Spaß. In „Gegen den Tag“ ahmt er Abenteuerromane und Spionagethriller, Sozialreportagen und Sexheftchen nach. Auf keiner Seite ist ein Satz, den man sich gerne merken würde.

Staunen aber kann man über die strahlende Intelligenz des Autors, über sein enzyklopädisches Wissen, seine Belesenheit, seinen Erfindungsreichtum, seinen Irrwitz. In den vielen Gegen- und Anderswelten, die er hier geschaffen hat, gibt es Anarchistengolf, eine „Mädchenhandel-Simulationsindustrie“, schwebende Schuhe, lesende Hunde, sprechende Blitze, gebraucht gekaufte Zeitmaschinen, einen Wirbelsturm namens Thorvald und (in dem Kapitel, das in Göttingen spielt) Türen, die wie Türen aussehen, wie Türen funktionieren, aber keine Türen sind. Verblüffend ist die Reise mit der Unterwüsten-Fregatte „Saksaul“, die so beginnt: „Diamantbewehrte Schneckenbohrer erreichten ihre Nenndrehzahl und gruben sich praktisch reibungslos in den Sand der innerasiatischen Wüste…“.

Immer und überall riecht es nach Ozon und verschmortem Guttapercha. Außerdem taucht einmal eine gebraucht gekaufte Zeitmaschinen auf, deren Reisende man mit einem Haken aus dem Nirgendwo befreien muss. Dieser Haken ist natürlich auch geklaut. Er stammt vom Science-Fiction-Autoren Philip K. Dick, der in seiner Erzählung „Zahltag“ (1952) von einer Maschine berichtet, die mit einer „Zeitschaufel“ Dinge aus der Zukunft in die Gegenwart holen kann. Aber Autoren können sich, was sie brauchen, auch in der Vergangenheit besorgen.

Ronald Meyer-Arlt

Thomas Pynchon: „Gegen den Tag“, Rowohlt, 29.90 Euro

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