Kostbarkeit der Stille
Was geht dem Burschen nur durch den Kopf? Seinen Ball hat er fest im Griff, das Gegenüber wartet womöglich auf den nächsten Wurf, aber warum dieses Zögern? Tut sich etwas in der Ferne, das irritiert? Karl Hofers "Junge mit dem Ball" zieht an - schon von Weitem. Und es ist nicht das einzige Porträt, das in der Sammlung des Münchners Hartwig Garnerus einen unbeschreiblichen Sog ausübt.
Sicher, Menschen betrachten am liebsten Menschen. Um das festzustellen, muss man weder Museumsexperte noch Psychologin sein. Doch wenn die Porträtierten einfach nur für sich sind, vielleicht zur Ruhe kommen und der Blick nach innen wandert, passiert etwas Vergleichbares mit dem Betrachter, der Betrachterin. In einer Mischung aus Grübeln über die dargestellte Person und deren Befindlichkeiten wird man auf sich selbst geworfen. Das gehört zum Wertvollsten in der Auseinandersetzung mit der Kunst.
Deshalb kommt es auch nicht von Ungefähr, dass die ehemalige AZ-Verlegerin Anneliese Friedmann im Bilder-Reich des Hartwig Garnerus Ruhe fand, sich erholte, wenn man so will. Seit heute ist dieses sehr private Ambiente in der Pinakothek der Moderne zu erleben. 60 "Menschenbilder der Sammlung Garnerus" sind unter dem vielsagenden Titel "Schön und verletzlich" von Oliver Kase in eine dichte, kluge Folge gebracht. Dabei handelt es sich um Gemälde und Plastiken, die überwiegend zwischen den Weltkriegen entstanden sind und irgendwo zwischen spätem Expressionismus und Neuer Sachlichkeit pendeln.
Doch stilistische Einordnungen helfen hier kaum weiter. Das ist Künstlern wie Karl Hofer und Helmut Kolle, Emy Roeder oder Gerhard Marcks ohnehin nie gut bekommen. Denn die Kunstgeschichte ist auf Innovationen fixiert. Zuerst war die Generation der um 1880/90 Geborenen vermeintlich zu spät dran, dann kam meistens die Verfemung durch die Nationalsozialisten, und schließlich wehte nach 1945 ein neuer, vornehmlich abstrakter Wind.
Einige ganz fabelhafte Maler und Bildhauerinnen sind auf diese Weise erst übersehen, später vergessen worden. Mittlerweile ist das Interesse groß, die Preise sind ordentlich gestiegen, und Hartwig Garnerus ist als Leihgeber gefragt.
Vor rund 40 Jahren hat der Kunsthistoriker damit begonnen, diese Werke ganz bewusst zu sammeln. Schon der künstlerischen Qualität wegen und weil er "die Kostbarkeit der Stille gesucht" hat. Zudem sah Garnerus in den mittlerweile 100 Jahre alten Bildern die Gegenwart: das verzagte Gesicht eines Arbeitslosen, die Furcht und zugleich die Selbstbehauptung der Ausgegrenzten, den leisen Lebenshunger von Kindern, die die Eltern verloren haben.
Die Nachrichten sind voll davon. Und wenn man sich die Begleitumstände mancher Exponate ansieht, wiederholen sich die Schicksale. Carl Lohse etwa hat viel im Waisenhaus gemalt und in der Traurigkeit auch den Trotz gefunden, den Biss, der Hilflosigkeit zu entkommen. Nichts ist eindeutig, vieles vermittelt im Blick den Bruch.
Dann wird aus einem Helden ein Bedrückter, auf dem das ewige Siegenmüssen lastet - Helmut Kolle ist gerade im Sport fündig geworden. Zum Beispiel beim Mittelstrecken-Rekordler Jules Ladoumègue oder einem Boxer, dem die Angriffslust des Terriers direkt neben ihm völlig abgeht. Auch sein Torero, dessen Bein sich wohl auf den erlegten Stier stützt, ist kein stolzer Bezwinger. Und richtet sich die Hand des Matadors nicht zum Segensgestus nach oben?
Garnerus schenkt den Pinakotheken seine Sammlung
Mit all diesen Werken hat Hartwig Garnerus gelebt und sich ausgetauscht. Leer sei es zu Hause trotzdem nicht, sagt er, "die Situation ist aber befreiend". Das darf man im doppelten Sinn verstehen. Es hängt weniger, und er wird seine außergewöhnliche Kollektion den Staatsgemäldesammlungen "zu Lebzeiten schenken oder durch Vermächtnis zukommen lassen". Und damit führt Garnerus eine schöne Tradition fort. Er habe mit dem Freund Theo Wormland dessen Surrealismus-Sammlung aufbauen dürfen, konnte nach Wormlands Tod 1983 mit der gleichnamigen Stiftung Ankäufe der Staatsgemäldesammlungen ermöglichen. Dass Garnerus mit zu den Initiatoren der Pinakothek der Moderne zählt, vergisst er zu erwähnen. Wie so vieles. Aber das macht den Mäzen eben auch aus.
"Schön und verletzlich", bis 24. September 2023 in der Pinakothek der Moderne München, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr, Saal 25, 26
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