Konzentrierte Träumereien
Salzburg: Der umjubelte Liederabend von Anna Netrebko und Daniel Barenboim im Großen Festspielhaus
Keine schlechte Idee: Wenn die russische Primadonna heuer schon nicht in einer Oper brilliert, dann könnte man mit ihr live im Großen Festspielhaus eine CD aufnehmen. Deshalb auch der freundliche Herr, der zu Beginn das Publikum mit ironischem Understatement aufforderte, bitte nur während der leisen Stellen zu husten. Was, sehr zur Freude der Deutschen Grammophon, natürlich überhört wurde.
Einige Nachkorrekturen dürften dennoch nötig werden. Denn Anna Netrebkos müde wirkender Klavierbegleiter Daniel Barenboim erweckte ein ums andere Mal den Eindruck, als spiele er vom Blatt. Wo energischer Zugriff erforderlich gewesen wäre, versteckte er sich in Andeutungen. Melodische Linien wurden willkürlich zerhackt. Das alles machte einen improvisierten Eindruck.
Hansi Hinterseer als Kunstkenner
Dass die russische Diva ein wenig fülliger geworden ist, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Dass ihre beiden Abendroben, die erste fliederfarben, die andere schwarz und unten weiß abgeschlossen, etwas unglücklich gewählt schienen, nahm man zur Kenntnis. Was die Sängerin so symphatisch macht: Die Hysterie um ihre Person scheint sie eher zu belustigen. Sie will sich als Künstlerin beweisen und nicht als glamouröses Klassik-Girl.
Und das war auch wichtig. Denn die weitgehend unbekannten Lieder von Rimski-Korsakow und Tschaikowsky erfordern höchste künstlerische Konzentration: Lyrische Träumereien, Naturschilderungen, Liebesleid und Liebesfreud’ – da sind vielfältigste Farben gefragt, die sich Anna Netrebko immer wieder mit wunderbarer Intensität erkämpfte. Die Stimme ist, nicht zu ihrem Nachteil, runder und wärmer geworden, die gelegentlich soubrettenhafte Leichtigkeit nahezu verschwunden. So entstand der Eindruck jener authentischen Nachdrücklichkeit, durch die diese Romanzen zu kleinen Meisterwerken werden.
Salzburgs Schickeria, angeführt von den Kunstkennern Hansi Hinterseer und Thomas Gottschalk, jubelte zunächst verhalten. Standing Ovations gab es erst nach der zweiten Zugabe, der stilistisch leider arg zerzausten „Cäcilie“ von Richard Strauss.
Volker Boser