Klimaaktivisten unterbrechen Jurowskis Konzert

Auf der aktuellen Jubiläums-Tournee durch Europa zum 500. Bestehen mit Staatsopern-GMD Vladimir Jurowski gastierte das Bayerische Staatsorchester am Freitagabend im KKL in Luzern am Vierwaldstättersee. Mitten im Scherzo aus der Symphonie Nr. 4 von Anton Bruckner haben zwei Klimaaktivisten der Gruppe "Renovate Switzerland" das Konzert gestört. Die Situation hätte leicht eskalieren können.
AZ: Herr Jurowski, wie haben Sie die Situation am Freitag in Luzern erlebt?
VLADIMIR JUROWSKI: Schon im zweiten Satz der Symphonie Nr. 4 von Bruckner hatte ich eine Unruhe im Saal wahrgenommen. In letzter Zeit werde ich hellhörig, weil es in der Regel bedeutet: Entweder ist jemandem schlecht geworden, oder es ist ein politischer Protest. Im Frühjahr hatten wir ja an der Staatsoper einige Erfahrungen mit Protesten rund um die Neuproduktion von Sergei Prokofjews "Krieg und Frieden" wegen des aktuellen Ukraine-Kriegs. In Luzern dachte ich zunächst: Jemandem ist schlecht, oder die Ukraine-Thematik kocht wieder hoch.
Ab wann war Ihnen klar, dass es diesmal anders ist?
Als die beiden jungen Menschen auf die Bühne kamen, um sich neben uns zu setzen, habe ich sofort verstanden, wer sie sind und worum es geht. Ich habe mich spontan entschieden, weiterspielen zu lassen. Es gibt einen Satz von Robert Schumann aus seinem Vorwort zum "Album für die Jugend": "Unterbrich nie ein Musikstück in der Mitte." Das habe ich mir schon als Kind eingeprägt. Ich habe einfach weiterdirigiert. Mit Handzeichen habe ich dem Publikum signalisiert, nicht zu schimpfen und uns zu Ende spielen zu lassen.
Wie haben Sie in dem Moment die Protestierenden erlebt?
Mit dem Rücken zum Publikum stehend, konnte ich natürlich die jungen Protestierenden nicht sehen, aber ich spürte ihre Präsenz. Sie hatten zunächst versucht, etwas zu sagen, aber sie wurden immer stiller. Der Satz war beendet, und das Publikum applaudierte. Währenddessen wandte ich mich an die jungen Menschen und sagte: "Ich weiß, warum Ihr da seid. Ich weiß, worum es Euch geht. Ich mache einen Vorschlag: Ich lasse Euch jetzt reden, gebe Euch die Tribüne. Ihr gebt uns im Gegenzug die Möglichkeit, unseren Bruckner zu Ende zu bringen - den letzten Satz, und Ihr stört uns nicht dabei."
Wie haben sie reagiert?
Die junge Frau war überwältigt, hat angefangen zu weinen. Sie sind ja daran gewöhnt, dass man sie ausbuht oder handgreiflich bedrängt. Wenn man sie aber einfach einmal reden lässt, ist das ganz anders. Da muss man auch etwas zu sagen haben. Ich habe beide umarmt.
Warum?
Ich habe sie im Grunde wie meine Kinder behandelt, die etwas für einen guten Zweck angestellt haben, was vielleicht nicht unbedingt gesellschaftskonform ist. Sie ist im Alter meiner Tochter, und der junge Mann ist etwas älter als mein jüngster Sohn. Insofern habe ich sie wie Kinder wahrgenommen, die etwas Gutes wollen und es nicht besser wissen, als das zu tun, was sie taten.
Wie war währenddessen die Stimmung im Orchester?
Es ist vor allem ein riesiger Stress für meine Kolleginnen und Kollegen. Sie möchten sich vor der internationalen Musikwelt von ihrer besten Seite präsentieren, und dies in einem der besten und schönsten Konzertsäle der Welt: im Luzerner KKL. Dass man mitten im Satz gestört und unterbrochen wird, ist nicht schön. Trotzdem fand ich es wichtig, den jungen Menschen Gehör zu schenken und ihnen für einen Moment die Bühne zu geben. Ich muss sagen: Die Reaktion unserer Musiker fand ich sehr schön, weil sie den Protestierenden zugehört und mich dabei unterstützt haben.
Und das Publikum?
Es hat sich in Teilen nicht schön verhalten. Ich musste das Publikum sogar ziemlich lautstark ermahnen: "Wenn sie den jungen Menschen jetzt nicht Gehör schenken, gehe ich von der Bühne. Ich habe ihnen mein Ehrenwort gegeben, dass sie nicht gestört werden. Lassen Sie sie bitte jetzt reden. Wir spielen anschließend die Symphonie zu Ende. Wenn Sie jetzt aber Krawall machen, gehe ich von der Bühne, und es gibt kein Konzert mehr."
Hat das geholfen?
Einige im Publikum waren noch immer empört und haben dazwischengerufen. Es herrschte dann aber Ruhe, und es wurde dem Finalsatz intensiv gelauscht. Am Ende gab es stehenden Beifall. Ich muss sagen: Die Vierte von Bruckner hat durch dieses Ereignis für mich noch an Relevanz gewonnen.
Nämlich?
Gerade der letzte vierte Satz ist für mich die Beschreibung einer Apokalypse, aber auch ein idealistischer Versuch, ihr durch die Kraft des Geistes und des Glaubens zu entkommen. Das war, für mich jedenfalls, nach diesem Eklat in der Musik umso dringlicher, direkter und intensiver zu spüren: durch die Ansprache der jungen Menschen und die katastrophale Situation wegen des Klimawandels, in der wir uns alle befinden.
Der Protest war also gut gewählt?
Der Protest war, vom musikalischen Zeitpunkt her, fast schon ideal getaktet. Ich weiß nicht, ob das den Aktivisten so bewusst war. Am Ende also trotz der ganzen Unannehmlichkeiten für uns und fürs Publikum: Es hätte keinen besseren Zeitpunkt im Programm für diesen Protest geben können.
Was heißt das für mögliche Proteste dieser Art bei künftigen Konzerten?
Das Anliegen der Klimaaktivisten liegt mir sehr am Herzen, auch wenn ich nicht auf jeder Station unserer Europatournee oder in anderen Konzerten ständig diplomatische Aktionen wie diese vollbringen möchte. Ich wünsche mir, dass wir einen Weg finden, diesen jungen Menschen einen Weg zu geben, sich vor einem Publikum zu äußern. Was ich nicht gut finde, ist, wenn die Musik gestört wird.