Zu viele Blicke

Das Stochern im See als Sinnbild für das Stochern in der Vergangenheit: In "Die kanadische Reise" will ein Mann seine Brüder kennenlernen.
von  Claudia Nitsche
Mathieu (Pierre Deladonchamps, rechts) hört von Pierre (Gabriel Arcand) Geschichten über seinen Vater.
Mathieu (Pierre Deladonchamps, rechts) hört von Pierre (Gabriel Arcand) Geschichten über seinen Vater. © 2017 Temperclayfilm
33 Jahre hat Mathieu in dem Wissen verbracht, das Ergebnis eines One-Night-Stands zu sein. Doch dann erhält er einen Anruf: Sein eben verstorbener Vater hat ihm ein Päckchen vererbt. Dies ist die Ausgangssituation im neuen Film des erfolgreichen Regisseurs
Philippe Lioret. In "Die kanadische Reise" erzählt er, inspiriert von einem Roman von Jean-Paul Dubois, vom Suchen und Finden und von den blutigen Nasen, die man sich dabei holt. Der Anruf, den Mathieu (Pierre Deladonchamps) erhält, kommt aus Kanada. Das bedeutet, er muss seine Heimat Frankreich verlassen, will er etwas über einen Teil von sich erfahren, der ihm bisher verborgen blieb. Seine Mutter hüllte sich in Schweigen, was Mathieus Entstehung betrifft. Die Entscheidung scheint bei ihm schnell zu fallen, er spricht mit seiner Ex-Frau, versetzt seinen kleinen Sohn
und startet zu einer dreitägigen Reise auf einen anderen Kontinent, um seine Wurzeln zu erforschen. Dass dieses Unterfangen auf eine Art sinnlos ist, merkt er erst später. In Montreal wird er von einem Pierre (Gabriel Arcand) am Flughafen abgeholt. Die Erwartungen sind groß, aber dieser Pierre, ein guter Freund des Verstorbenen
und wie dieser auch Arzt, bremst Mathieus Vorhaben aus, seine Familie kennenzulernen. Mathieu hat zwei Halbbrüder, die aber erst mal nichts von Mathieus Existenz erfahren sollen. Kennenlernen darf er sie trotzdem, und weder der eine noch der andere ist so, wie man sich das gerne im Vorfeld vorstellt. Sie streiten sich darüber, wer die Eier und wer den Verstand hat. Es scheint auch um Geld zu gehen, weswegen sie ihren Vater suchen, der mit einem Boot gekentert ist, dessen Leichnam
aber bislang nicht gefunden wurde. Schon nach kurzer Zeit fühlt sich Mathieu fehl am Platz und überlegt abzureisen. Wozu eine Beerdigung, wenn es noch nicht mal einen Toten gibt? Doch da gibt Pierre Gas, erzählt davon, dass die beiden, seine Mutter und sein Vater, sich geliebt haben, dass die Geschichte nicht nur für eine Nacht, sondern zumindest in den Herzen etwas Besonderes war. Überhaupt ist die Familie von Pierre viel netter als die eigene und nimmt ihn auf wie ... einen eigenen Sohn. Der Pariser Regisseur
Philippe Lioret dreht seit 25 Jahren Filme und ist ein Routinier, was gefühlvolles Kino angeht: So setzte er mit "Die Frau des Leuchtturmwärters" Sandrine Bonnaire ein kleines Denkmal. Besonders der Familienfilm "Keine Sorge, mir geht's gut", in dem eine junge Frau ihren verschwundenen Bruder
sucht, musste zur Schlussfolgerung führen, dass Lioret der richtige Mann für diese Produktion ist. Schon beim Lesen des noch nicht in Deutschland erschienenen Buches von Jean-Paul Dubois war Lioret überzeugt, dass dies eines seiner besten sei. Er las es vor langer Zeit, und obwohl er es so gut fand, schlug er es angeblich nicht mehr auf, als er die Filmrechte besaß. Er vernachlässigt vieles, wollte den Aspekt auf den Mann verlegen, der seine beiden unbekannten Brüder kennenlernen wollte. Lioret sagt, er schreibt ein Drehbuch nur weiter, wenn eine Seite perfekt und fertig ist. Andererseits erklärt er, habe er in diesem Fall teils am Abend vor dem Dreh Szenen umgeschrieben. Doch dies ist wahrscheinlich nicht der Grund, dass dieser Film so langweilt. Es gibt schöne Seenlandschaften und sympathische Darsteller, und die Tage bei der kanadischen Gastfamilie sind bis auf ein paar blutige Nasen recht realitätsnah gefilmt. Doch dieser Film arbeitet so stark mit vielsagenden Blicken, dass es kaum möglich ist, das Offensichtliche zu übersehen. Eine derart banale und durchsichtige Konstruktion kann nur oberflächlich unterhalten.
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