Wunderbar humanistisch und tragikomisch: "Die leisen und die großen Töne"

Dirigenten und Dirigentinnen sind derzeit häufig in Filmen im Fokus. Aber was der Franzose Emmanuel Courcol auf die Leinwand bringt, toppt die bisherigen filmischen Ausflüge in die Musikwelt.
Zwei Männer: Der eine ist ein internationaler Star-Dirigent, der andere Kantinenkoch und Hobby-Posaunist in der Dorfkapelle und kämpft mit Arbeitern um den Fortbestand der Fabrik am Ort. Zwischen ihnen liegen Welten.
Der Schreck: die Geschwister sind nicht verwandt
Als der erfolgreiche Thibaut (Benjamin Lavernhe, in Erinnerung aus "Birnenkuchen und Lavendel") bei einer Probe zusammenbricht, erfährt er die deprimierende Diagnose: Leukämie. Seine Schwester erklärt sich zur Knochenmarkspende bereit. Dann das Entsetzen: Sie sind nicht verwandt. Er wurde adoptiert.
Die Nachricht einer schweren Krankheit und die Tatsache, dass sein Leben auf einer Unwahrheit aufgebaut ist, wie er meint, zieht Thibaut komplett den Boden unter den Füßen weg. Aber es soll noch einen Bruder geben im Norden Frankreichs, der bei einer Pflegemutter aufwuchs: Jimmy (Pierre Lottin), seine einzige Überlebenshoffnung für die Knochenmarkspende. Jimmy ist nicht angetan von dem Fremden, der in sein Leben platzt. Nach dem ersten Misstrauen verbindet sie aber die Musik, egal ob klassisch oder populär.

Kafka hat recht: Man muss weinen
"Im Kino gewesen. Geweint": Franz Kafkas Tagebucheintragung trifft hier zu. Regisseur Courcol erzählt nach dem kulturellen, emotionalen und sozialen Schock von der vorsichtigen Annäherung zweier Menschen aus verschiedenen Schichten: der elitären Pariser Bourgeoisie und dem Arbeitermilieu in der Provinz.
Die Regie beweist ein feines Gespür für die Figuren, weiß, wie man die Charaktere - trotz verschiedener Lebensentwürfe und Lebenswirklichkeiten - in ihrer Stärke, Verletzbarkeit und Menschlichkeit zusammenbringen kann. Denn hier setzt der Film auf allgemein menschliche Eigenschaften. Aber nicht nur die beiden sich perfekt ergänzenden Hauptdarsteller, sondern auch die Laiendarsteller aus verschiedenen Blaskapellen ergeben hier ein wunderbar menschliches Panoptikum.
Ein tief humanistischer Film
Der im Film perfektionistische Feingeist Lavernhe steht derzeit mit der Comédie Française-Truppe in der Hommage an Serge Gainsbourg auf der Bühne, Lottin wiederum ist demnächst in François Ozons "Wenn der Herbst kommt" zu sehen, als instinktiver und animalischer Typ und stolzer Underdog. Manchmal erinnert "Die leisen und die großen Töne" als Mischung aus Sozialkomödie und Drama an Ken Loach und seine sozialkritischen, immer tief humanistischen Filme.

Trotz großer Gefühle gibt es keinen Kitsch, nicht eine Sekunde driftet das einfühlsame Werk in sentimentales Wohlgefühl oder ein unglaubwürdiges Happy End. Die Tragikomödie ist vielmehr ein sanfter Stich ins Herz, der weltweit schon Publikumspreise sammelt und in Frankreich bereits über eine Millionen Zuschauer hatte.
Ein wunderbarer Film zum Jahresabschluss
Dieses perfekte Kinoerlebnis mit immer neuen Wendungen verliert sich nicht in überflüssigen Worten. Man spürt vielmehr an Gesten, Körperhaltungen und Mimik, was zum Beispiel in Thibaut vorgeht, wenn er aus Solidarität für den Fabrikarbeiterstreik bei der nicht immer sauber spielenden Amateurgruppe den Taktstock schwingt.
Und immer wieder taucht sie auf die Frage: Wie wäre beider Schicksal verlaufen, wenn Thibaut sich nicht in einer großbürgerlichen, ihn immer fördernden Adoptivfamilie hätte entfalten können, sondern wie Jimmy in einfachen Verhältnissen gelandet wäre, wenn Jimmy die gleichen Chancen bekommen hätte? Wie kann man zufällige Ungerechtigkeiten ausgleichen?
Der zärtliche Blick auf Zufall und Zerbrechlichkeit des Glücks tut gut - und weh. Es ist der schönste Abschluss für das Kinojahr: leise und ganz groß. Man verdrückt vielleicht eine Träne und ist am Ende doch glücklich. Welcher Film schafft das schon?
Kino: City, Solln, Rex, Leopold, Rio sowie Monopol, Isabella, Theatiner (alle OmU)
R: Emmanuel Courcol (F, 103 Min.)