Wovon träumen eigentlich Hirsche?

Liebe in Zeiten der Kälte: Ildikó Enyedi hat mit "Körper und Seele" eine fantastische Filmpoesie über zwei Menschen gemacht, die zwischen frischen Rinderhälften ihre Ängste überwinden.
Andreas Fischer |
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Das Leben mit all den Menschen überfordert Maria (Alexandra Borbély) bisweilen arg.
2017 Alamode Film Das Leben mit all den Menschen überfordert Maria (Alexandra Borbély) bisweilen arg.
Dass in diesem Jahr ausgerechnet der ungarische Film "Körper und Seele" den Goldenen Bären gewonnen hat, ist insofern bemerkenswert, als sich die Filmfestspiele Berlin allzu gerne politisch geben. Mit ihrer Wahl aber hat die Jury vor allem einen sehr schönen, sehr poetischen Liebesfilm
ausgezeichnet. Die ganz großen politischen Botschaften jedenfalls findet man nicht auf dem Budapester Schlachthof, der Schauplatz einer Liebesgeschichte ist, wie sie wahrhaftiger lange nicht erzählt wurde im Kino. Gänzlich unpolitisch ist "Körper und Seele", der auf der Berlinale auch bei den Zuschauenden sehr gut ankam und einen Publikumspreis gewann, allerdings auch nicht. Regisseurin Ildikó Enyedi
lässt in ihrer Schlachthof-Romanze zwei unmögliche Lover zueinander finden und zeichnet dabei ein ziemlich nüchternes Bild des modernen Ungarns, das sich auch auf andere Gesellschaften übertragen lässt: feinfühlig beobachtet, mit Kameraperspektiven, die sich eher für die Details am Rand interessieren als das Offensichtliche im Zentrum. Endre (Géza Morcsányi) und Maria (Alexandra Borbély) sind ein sehr unwahrscheinliches Paar. Der Schlachthof-Chef ist seit Jahren allein und hat es sich in seinem erzwungenen Single-Dasein halbwegs bequem eingerichtet, den gelegentlichen unverbindlichen Triebablass eingeschlossen. Seine neue Kollegin Maria ist eine ziemlich penible Qualitätskontrolleurin, die sich am wohlsten fühlt, wenn sie sich zwischen Rinderhälften verstecken kann, niemanden anfassen muss und auch selbst nicht berührt wird. Einer Psychologin, die einen Potenzmittel-Diebstahl untersucht, erzählen sie unabhängig voneinander den gleichen Traum. Sie sind Hirsche im Wald, die sich auf der Suche nach Futter durch die Winterlandschaft bewegen und sich dabei näher kommen. Anders als es die Träumenden können, deren lahmer Arm (Endre) und Berührungsphobie (Maria) nur die sichtbaren Zeichen seelischer Verletzungen sind. Die Hirsche kommen immer wieder, sie werden zu Hauptdarstellern des Films, müssen die Wünsche und Sehnsüchte erfüllen, die sich die Menschen unerfüllt lassen. Eine sehr kluge Allegorie, die sich Ildikó Enyedi
hat einfallen lassen und in aller Konsequenz, zu der auch dokumentarische Aufnahmen vom Schlachtbetrieb gehören, umsetzt. Aus der Tristesse des durchnormierten Großstadtlebens geht es in die Natur und wieder zurück. Die Übergänge sind fließend, sodass man sich unweigerlich fragt, wovon die Hirsche eigentlich träumen. Zwischen Korruption, Borniertheit, Profitgier und Oberflächlichkeit schaffen es Endre und Maria in einem Film von leiser Tragik und feiner Komik, ihre körperlichen und seelischen Handicaps zu überwinden. Wenn es den beiden gelingt - so könnte man den Goldenen Bären für "Körper und Seele" auch interpretieren -, dann besteht vielleicht doch noch Hoffnung in der Welt. Was dann sogar als politische Botschaft ausgelegt werden könnte.
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